"Papa, Papa, warum schneit es nicht mehr?", fragen die beiden Kinder, fünf und sieben Jahre alt, ihren Vater Daniel Obst, Winter für Winter. Eine Frage – so unbedeutend, und doch so aussagekräftig: "Weil wir die Welt kaputt gemacht haben", sagt Obst. "Punkt".
Seine Stimme zittert, bricht dann gänzlich. In seinen Augen sammeln sich Tränen. Still laufen sie über seine Wangen, tropfen auf den Café-Tisch, an dem er sitzt. Für einen Moment wirkt er weit weg. Dann zieht er ein Taschentuch aus seiner Jackentasche, putzt sich die Nase und strafft die Schultern. "Natürlich sind das unwichtige Sachen, aber das zeigt mal wieder, wie akut die Klimakrise ist. Und das nimmt mich sehr mit."
Daniel Obst, 39 Jahre alt, kurze blonde Haare, blaugraue Augen und ein freundliches Lächeln im Gesicht, wohnt in Bergisch Gladbach.
Eigentlich ist er gelernter Informatiker und hat die digitale Transformation von Unternehmen wie Rewe, AXA oder BP vorangetrieben. Doch als 2019 immer mehr Kinder und Jugendliche mit Fridays for Future auf die Straße gehen, ändert sich sein Leben auf einen Schlag. Er hat sein Ikigai gefunden – seinen Grund, für den es sich zu leben lohnt.
Dass Umwelt- und Klimaschutz wichtig sind, ist Obst schon seit Jahren klar. Auch deshalb ist er seit der Finanzkrise im Jahr 2008 Ökostrom-Kunde bei Naturstrom und hat seit 2012 ein Konto bei der GLS, die auch als Umwelt-Bank bekannt ist. Lange Zeit ist er überzeugt: Die wichtigsten Hebel, um das Leben seiner Familie und sich nachhaltiger zu gestalten, hat er in Bewegung gesetzt.
Bis Greta Thunberg im August 2018 erstmals allein vor dem Reichstag in Stockholm streikt und mit der neu entstandenen Fridays for Future-Bewegung auch in Deutschland von Woche zu Woche mehr junge Menschen für Klimagerechtigkeit auf die Straße gehen. Da realisiert Obst: Der Klimawandel ist eine Katastrophe.
Und sie stecken schon mitten drin.
Er fängt an zu recherchieren, liest sich tiefer in das Thema ein – und ist schockiert: Wie nur konnte er die Dringlichkeit dieser Krise jahrelang übersehen? "Es war nicht mehr fünf vor zwölf, es war längst fünf nach zwölf", sagt Obst. "Das war mir, wie wohl den meisten, nicht bewusst und hat mich persönlich sehr getroffen. Hoffentlich ist es nicht schon zu spät."
Obst ist klar: Er will etwas ändern, er muss etwas ändern. "Sonst sind meine Kinder irgendwann im Fridays for Future-Alter und fragen mich: 'Papa, warum hast nichts dagegen getan?' Und das kann ich nicht verantworten – nicht vor mir selbst, aber vor allem nicht vor meinen Kindern."
Am 22. Juni 2019 geht Obst auf seine erste Fridays for Future-Demo in Aachen, von diesem Tag an ist er jeden Freitag dabei. "Die Arbeit zu schwänzen hätte arbeitsrechtliche Folgen, deswegen nehme ich den offiziellen Weg", sagt er und grinst. Also bummelt er Überstunden ab, nimmt sich die Freitage frei. "Das bin ich meinen Kindern schuldig. Ich ärgere mich, dass ich in diesem Hamsterrad festgesteckt und das Problem so lange ignoriert und nicht gesehen habe."
Die Monate verstreichen langsam, und mit ihnen kommt die Angst. Dürresommer, ausbleibender Schnee, Starkregen – was kommt da noch? Und in was für einer Welt werden seine Kinder leben? Seine Gedanken drehen sich im Kreis.
Er liest.
Er recherchiert.
Und mit jeder Studie, mit jedem Artikel und jedem Buch über die Klimakrise und ihre Folgen wird die Angst schlimmer. Greifbarer. "Die politischen Maßnahmen passen nicht zu dem, was hier passiert – und das ist erst der Anfang, es wird ja noch viel schlimmer", sagt Obst. Er schüttelt den Kopf, fasst sich ans Kinn und legt die Stirn in Falten.
Einen Moment lang wirkt er unschlüssig, dann spricht er doch: "Das geht manchmal bis zum Gedanken hin: 'Boah, hätten wir eigentlich Kinder kriegen sollen?'"
Es sind stille Momente, Momente der Hoffnungslosigkeit. Abende, in denen Obst und seine Frau schlaflos im Bett liegen. "Ich meine, sobald man Kinder hat, trägt man ja auch eine riesige Verantwortung für sie." Er schüttelt abermals den Kopf.
"Hätten wir noch keine Kinder gehabt – vor diesem Hintergrund hätten wir wahrscheinlich eher 'Nein' gesagt."
Doch als Obst die Dringlichkeit und die Ernsthaftigkeit der Klimakrise bewusst werden, waren seine Kinder längst auf der Welt. "Das gibt einem manchmal ein mulmiges Gefühl."
Wetterextreme. Hungersnöte. Wasserknappheit.
Und Kipppunkte, die drohen überschritten zu werden. Die eine dominoartige Kettenreaktion auslösen – und das System Erde schlagartig in eine neue Heißzeit katapultieren würden.
"Wenn die überschritten sind, dann ist alles kaputt und das kriegt man nicht wieder heile", sagt Obst. Aus und vorbei.
Doch das will Daniel Obst verhindern, um jeden Preis.
Nur wie? Er fängt bei sich selbst an.
Das Familienauto verkaufen sie, stattdessen fahren sie Fahrrad, Bus und Bahn. Ab und zu nutzen sie Carsharing. Wann immer möglich, isst Familie Obst vegan. In ihrem Einkaufswagen landen hauptsächlich regionale Bioprodukte.
Und auch in den Urlaub geht es nicht mehr mit dem Flieger, sondern stattdessen mit der Bahn oder dem Wohnmobil.
In seiner Firma macht Obst eine Fortbildung: Er lernt die Working Out Loud-Methode – einen Leitfaden, um seine Arbeit sichtbarer zu machen. Im eigenen Unternehmen – und in den sozialen Medien. Sein Thema: Klima und Umwelt. Er vernetzt sich mit Expertinnen und Gleichgesinnten und merkt schnell: "Wir haben doch alles, um die Klimakrise zu lösen. Warum machen wir es nicht einfach?"
Aber die Welt steckt fest. Das Denken – festgefahren. Die Menschen schieben die Krise von sich fort, machen weiter als wäre nichts. Dabei steht die Erde, und damit die Menschen, kurz vor dem Kollaps.
"Ich glaube, wenn wir mal für ein Jahr lang in einem kritischen Dauerzustand bei drei Grad Erderwärmung leben und danach wieder ins Hier und Jetzt zurückkehren könnten, was natürlich nicht geht, dann würden alle denken: 'Ach du scheiße' – und alles tun, um das zu verhindern."
Aber so einfach ist das nicht. Obst ist frustriert.
Es ist ein dunkler Abend im Januar 2021, als er auf der Couch sitzt und sich durch die sozialen Medien scrollt. Seine Gedanken schweifen ab.
Wie nur kann er sein Wissen unter die Menschen bringen?
Wie nur kann er die Dringlichkeit der Klimakrise transportieren?
Wie nur kann er einen Unterschied bewirken?
Plötzlich hat er eine Idee. Er will seine Gedanken aufschreiben, seine Erfahrungen teilen, andere zum Mitmachen inspirieren. In einer "Nacht- und Nebelaktion" erstellt er eine Website bei Wordpress – "Klimaschutz jetzt!" nennt er sie. "Ich dachte mir: Wenn ich nur 100 andere Menschen erreiche und die fangen mit irgendetwas an, dann wäre ich so glücklich."
Also fängt Obst zu schreiben an, teilt seine Blogbeiträge mit Freunden und Familie. Und seine Texte kommen an. Besser, als er erwartet hätte, viel besser.
Vielleicht kann er noch mehr Menschen erreichen?
Obst überlegt, teilt seine Texte schließlich im Business-Netzwerk LinkedIn. Zwar zeigen sich einige irritiert darüber, was das Thema Nachhaltigkeit dort zu suchen hat. Aber der Großteil der Rückmeldungen ist positiv. Obst ist motiviert, schreibt Beitrag für Beitrag.
Und beginnt mit sich selbst zu hadern. "Ja, mein Job ist toll, aber er berührt mich nicht im Herzen, deswegen stehe ich morgens nicht auf", erzählt er.
Aber Klimaschutz, das ist sein Thema. Das ist das, wofür er morgens aufsteht, wofür er bereit ist zu kämpfen. Für eine bessere Welt, für seine Kinder.
Obst stößt auf das Ikigai-Modell, ein japanisches Konzept, um den Sinn des Lebens zu finden. Das Modell stützt sich auf vier Pfeiler:
Erst die Schnittmenge aller vier Komponenten kann dem Konzept nach zur persönlichen Erfüllung führen.
Obst's Ikigai ist ganz klar der Klimaschutz. Aber den sicheren Job kündigen, um sich selbstständig zu machen? Um etwas zu tun, das er nicht einmal studiert oder gelernt hat?
Er überlegt. Und kommt zu einem Schluss: "Wenn nicht mal ich aus dieser total elitären Luxus-Position in diesem genialen Land den Mut dazu habe, für den Klimaschutz ein Risiko einzugehen – ja wer denn dann? Dann rettet uns niemand. Dann werden wir diese Transformation und das 1,5 Grad-Ziel nicht erreichen. Na dann gute Nacht."
Obst kündigt seinen Job.
Er sagt: "Wenn ich das nicht machen würde, könnte ich das vor mir selbst nicht verantworten. In 20 Jahren würde ich mich zu Tode schämen, nein, damit würde ich nicht klarkommen."
Als sich im Juli 2021 im Ahrtal die Hochwasser-Katastrophe ereignet und 133 Menschen sterben, ist die Klimakrise für Obst aktueller denn je. Es sind erste Ausläufer und Folgen der Erderwärmung. Spürbar – nicht nur weit weg im globalen Süden, sondern auch hier in Deutschland.
Plötzlich ist da wieder die Angst. Und die Sorge vor dem, was da alles noch kommen mag.
Wie kann es sein, dass die Politikerinnen und Politiker selbst nach den Dürresommern und Überflutungen im Ahrtal noch immer nicht verstehen wollen, wie wichtig der Klimaschutz ist? Und wie wichtig er jetzt sofort ist. "Das ist die letzte Legislaturperiode, in der wir die Weichen für eine 1,5 Grad-Welt stellen können, für eine lebenswerte Welt", sagt Obst.
Er ergänzt:
Je mehr Obst sich mit dem Thema Klimakrise befasst, umso klarer wird ihm: Ob das 1,5 Grad-Ziel noch zu schaffen ist, liegt nicht in den Händen der Bürgerinnen und Bürger. Es liegt in der Hand von Politik und Wirtschaft.
Also Kurswechsel.
Unternehmen beraten hat Obst auch in seinem früheren Job. Warum jetzt nicht auch – nur halt in Sachen Klimaschutz und Transformation zu einer nachhaltigeren Wirtschaft?
Die Fragen sind offensichtlich: Was sind die großen Hebel? Was können Unternehmen tun? Und welche Strategie brauchen sie dafür?
Obst fängt an, Unternehmen zu beraten – mit einem Fokus auf Strategie, Kultur und Kommunikation. "Es geht darum, die Menschen mitzunehmen und die Nachhaltigkeit zur Selbstverständlichkeit zu machen", sagt Obst. Das sei nichts anderes, als damals mit dem Handy – früher ungewohnt und lästig, heute nicht mehr wegzudenken. "Und genau da müssen wir auch beim Thema Klima und Nachhaltigkeit schaffen."
Um das zu schaffen, tritt Obst auch als Speaker auf, doziert an der Volkshochschule. Und engagiert sich an Schulen – um auch die Kinder mitzunehmen und ihnen zu zeigen: Auch sie können etwas bewegen, auch sie können einen Unterschied bewirken. Und wenn sie nur immer wieder das Tun ihrer Eltern und Großeltern hinterfragen.
Das Interesse wächst. Die Aufmerksamkeit für seine Themen steigt.
Im November 2021 wird Obst von LinkedIn zur "Top Voice für Nachhaltigkeit" ausgezeichnet – neben Menschen wie der Influencerin und Gründerin Louisa Dellert und der Ökonomin Claudia Kemfert. Das pusht seine Reichweite zusätzlich.
Obst kann sich vor Angeboten, Unternehmen bei ihrer Transformation in ein nachhaltigeres Wirtschaften zu begleiten und unterstützen, kaum retten.
Er arbeitet mehr und mehr.
"Jede Stunde, die ich im Moment da reinstecke, hat die Chance, das Ruder um ein Mü in die richtige Richtung zu reißen, sodass wir hoffentlich in zehn Jahren sagen können: 'Puh, da haben wir nochmal mit Ach und Krach die Kurve gekriegt.'"
Obst lächelt. Das ist sein Traum. An dieser Vision hangelt er sich entlang.
"Und solange auch nur ein Hauch von Hoffnung besteht, ist Aufgeben keine Option. Meine Kinder haben jede Minute Engagement verdient, um noch das Schlimmste abzuwenden."