Wenn die Gedanken rasen, sich die Welt immer schneller dreht und das Herz in seiner Brust springt, dann hält Gabriel Baunach inne. Es ist sein Körper, der schreit: "Stopp, halt – sofort!"
Mit der Zeit hat Baunach gelernt, auf diese Signale zu hören. Er weiß: Ignoriert er den Schwindel und die rasenden Gedanken, und macht weiter wie zuvor, geht sein Körper in den Streik – und er fällt in ein tiefes Loch.
Im April 2019 ist ihm genau das passiert, "da bin ich so richtig auf den Boden gekracht", sagt Baunach heute. "In dem Moment ist mir klar geworden, dass ich mein eigenes Leben so nicht weiterleben kann." Weil die Auswirkungen der Klimakrise so allumfassend sind. Weil die Diagramme, die zeigen wie "unglaublich steil" die Emissionen bis 2050 sinken müssen, um das 1,5 Grad-Limit einzuhalten, ihm die Augen geöffnet haben. Die Botschaft, die sich ihm einbrennt: Die Zeit, um die Erderwärmung noch zu stoppen, ist knapp, viel zu knapp. "Diesen Graph krieg ich glaub ich nie wieder aus meinem Gedächtnis, das hat mir echt Angst gemacht."
Gabriel Baunach, 29 Jahre alt, dunkelblonde Haare, braune Augen und ein schiefes Grinsen im Gesicht. Er wohnt in Berlin und ist Energieexperte und Gründer von Climaware.
In Berührung mit dem Thema Klimakrise kommt Baunach erstmals mit 14 Jahren, im Jahr 2007. Weil seine Erdkundelehrerin krank ist, kommt ein Vertretungslehrer in die Klasse – und zeigt den Schülern die Klima-Dokumentation "Eine unbequeme Wahrheit" von Al Gore, dem ehemaligen US-Vizepräsidenten. "Ich weiß noch ganz genau, wie ich aus diesem Film-Raum rausgegangen bin." Plötzlich ist die Welt für Baunach eine andere.
Schulpause.
Statt mit seinen Freunden zur Tischtennis-Platte zu rennen, geht Baunach wie ferngesteuert über den Schulhof – allein. Seine Gedanken rasen: Wenn die Temperatur immer weiter steigt, bekommt die Erde Fieber – natürlich bringt das die Atmosphäre aus dem Gleichgewicht, natürlich hat das Auswirkungen auf den Menschen! Und was ist mit dem Getreideanbau, mit der Ernährungssicherheit? Oder Extremwetterereignissen?
"Ich war irgendwie entgeistert. Auch wenn es makaber ist, ich hätte es schön gefunden, wenn es allen so gegangen wäre, weil – dann hätten wir darüber reden können", sagt Baunach. Er zuckt mit den Schultern und lächelt entschuldigend, als wäre es unfair sich das seinen ehemaligen Mitschülern gegenüber zu wünschen.
Aber erst einmal ist er allein mit seinen Gedanken. Und enttäuscht. Hatten seine Eltern und sein Großvater ihm doch immer vermittelt, dass die Welt besser wird, dass alles, das kommt, ein Fortschritt ist – "dass es für alle Probleme, die es gibt auf der Welt, eigentlich nur eine Frage der Zeit ist, bis wir die lösen". Und dann das. Sein Weltbild ist erschüttert. "Da habe ich das erste Mal so etwas wie Zukunftssorgen empfunden, noch nicht Angst, aber Sorge."
Er spricht mit seinen Eltern – über die steigenden Temperaturen, über die fossilen Energien, über das Artensterben. Sein Stiefvater zweifelt, versucht ihn zu beschwichtigen, das sei alles noch nicht erwiesen, er solle sich nicht so viele Gedanken machen. Aber Baunachs Mutter hört zu, merkt schnell, dass das Thema ihren Sohn gepackt hat. Aber wirklich weiter weiß auch sie nicht.
Ein Jahr später, 2008, ist Baunachs Mutter auf einer Veranstaltung der Wirtschaftsvereinigung. Einer der Speaker dort: Hans Joachim Schellnhuber, Begründer und langjähriger Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung. Sie spricht ihn an, erzählt, dass ihr Sohn für die Klimaforschung brenne, ob er nicht vielleicht ein Praktikum am Institut machen könne. Eigentlich würden sie zwar keine Schülerpraktikanten nehmen, aber er könne sich ja mal an die Bewerbungsabteilung wenden, erwidert Schellnhuber. Und das tut Baunach.
Tagelang feilt er an seinem Motivationsschreiben, berichtet von seinem einschneidenden Moment im Erdkundeunterricht. Mit Erfolg: Baunach bekommt den Praktikumsplatz.
Und überhaupt – Baunach stürzt sich auf alles, das mit dem Thema zu tun hat: Zeitungsartikel, Bücher, Dokus.
2008: Praktikum am Forschungszentrum Jülich.
2009: Praktikum am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung.
2010: Deutsche Schüler-Akademie, auch dort fokussiert er sich auf die Themen Klima und Energie.
Nach der Akademie ist sich Baunach sicher: Der Schlüssel zur Lösung der Klimakrise ist die Energiewende. "Und da war mir dann klar: Ich möchte diese Energiewende mitgestalten, Ingenieur werden."
Nach dem Abitur 2012 geht Baunach nach Amerika, fängt sein Maschinenbau-Studium an der Boston University an. Weil er ein Jahr später kein Stipendium bekommt, kehrt er zurück nach Deutschland, studiert an der RWTH Aachen. Und stellt für sich fest: Maschinenbau ist doch nicht so sein Ding. Fertig studieren will er trotzdem – auch wenn die Klimakrise komplexer ist, als dass ein Ingenieur sie lösen könnte.
"Davor hatte ich irgendwie die Vorstellung, der Klimawandel ist so ein Problem wie der saure Regen oder das Waldsterben. Eben eines dieser Umweltprobleme." Aber so einfach ist es nicht.
Mit dieser Realisation beginnen seine Gedanken zu rasen. Wie nur lässt sich der Klimawandel aufhalten? Was nur kann er tun, um die Erderwärmung zu begrenzen? Baunachs Herz klopft schneller und schneller. Seine Gedanken kreisen um die immer gleichen Fragen.
Mit Fridays for Future und dem Sonderbericht des Weltklimarates IPCC kommt im Oktober 2018 auch der Schwindel. Und die Angst. "Der Bericht hat mir echt zu denken gegeben, weil ich halt Angst bekommen habe, dass wir das nicht schaffen." Baunach schüttelt den Kopf. "Davor hatte ich immer das Gefühl, okay, die Menschheit hat schon so vieles geschafft und wenn das Problem groß genug ist, dann werden wir auch sehr kreativ und die Not macht erfinderisch." Aber der Bericht, die Diagramme, die streikenden Kinder und Jugendlichen öffnen ihm die Augen: So wird das nichts mit der Rettung des Klimas.
Baunach gehen die Ausreden aus, vor sich selbst – und vor der Welt.
Er geht auf Fridays for Future-Demos, spricht immer mehr über die Folgen des Klimawandels – oder der Klimakrise, wie Baunach jetzt sagt. Die Erderwärmung ist kein Wandel, sie ist eine Krise, eine Katastrophe. Das will er ausdrücken, auch durch seine Sprache.
Im April 2019 geht sein Körper in den Streik, "dann bin ich so richtig auf den Boden gekracht". Es ist ein Sturm der Gefühle, der Baunach einholt: Die schockierenden Fakten über die Folgen der Erderwärmung, die streikenden Kinder, das Gefühl, selbst nicht ausreichend gehandelt zu haben. Baunach ist ausgelaugt, hat zu nichts mehr Lust, denkt Tag für Tag stundenlang über die Klimakrise nach. Ansonsten ist da nur Stille, Leere.
Die Angst kommt in Wellen, bäumt sich auf und überfällt ihn. Dann wieder flaut sie ab, lässt ihn zurück. Verloren. Mutlos.
Baunach liegt auf der Couch, lethargisch – ohne sich zu rühren. Den Spanischkurs, für den er sich angemeldet hatte, sagt er ab. "Ich habe mich überhaupt nicht danach gefühlt, irgendwas zu tun und habe dann richtig den Stecker gezogen, alle Pläne von Mai bis Juli fallen gelassen."
Zwei Wochen sieht Baunachs Mutter dabei zu, wie sich ihr Sohn zurückzieht. Und nichts mehr macht. Dann zieht sie einen Schlussstrich – so kann es nicht weitergehen. Ihr Sohn braucht Hilfe.
Und Baunach hat Glück: Binnen kürzester Zeit bekommt er einen Therapieplatz, hat einen Psychotherapeuten, der seine Ängste und Sorgen um das Klima und die Umwelt ernst nimmt.
Baunach schöpft neue Kraft. Geht viel spazieren, meditiert, schläft, liest nicht mehr so viele Nachrichten.
Drei Monate später startet er sein Praktikum im UN-Klimasekretariat. Er hat wieder Mut gefasst, ein bisschen zumindest. Baunachs Ziel: Alles in seiner Macht Stehende zu tun, um die Menschen für die Folgen der Klimakrise zu sensibilisieren – und damit seinen Teil dazu beizutragen, die Klimakrise aufzuhalten. Bevor es zu spät ist.
Manchmal aber, da holen ihn der Schwindel und die rasenden Gedanken wieder ein. Das ist Baunachs Signal, innezuhalten.
Dann schließt er die Augen, verlagert sein Gewicht auf den rechten Fuß und richtet seine ganze Aufmerksamkeit auf die rechte Fußsohle. Einatmen. Auf den Fuß konzentrieren. Ausatmen. "Das geht vielleicht für drei, vier, fünf Sekunden – und dann kommt ein Gedanke und man muss das einfach merken und den Gedanken fliegen lassen wie einen Luftballon."
2020 dann gründet Baunach Climaware – eine Plattform, auf der er die Fakten rund um die Klimakrise einfach verständlich zusammenträgt und erläutert. Im gleichnamigen Podcast spricht er mit bekannten Klimaforschern wie Hans Joachim Schellnhuber, Stefan Rahmstorf oder auch Harald Lesch. "Darüber zu sprechen war mir so ein Bedürfnis zu der Zeit, weil mir ja auch klar war, wie kritisch und entscheidend die kommenden Jahre sind, dass es fast schon um Monate geht."
Er will die Menschen aufklären, wachrütteln.
Denn eine Brücke von der Klimawissenschaft zum alltagstauglichen Gespräch unter Nachbarn oder Freunden gibt es zu dem Zeitpunkt nicht, wie Baunach findet.
Die Ergebnisse der Weltklimakonferenz – verpufft.
Nachrichten über bereits eintretende Folgen der Klimakrise – untergegangen.
"Eigentlich ist das ja Aufgabe der Medien, das so aufzubereiten, dass jeder normale Mensch wirklich bestmöglich über den Klimawandel aufgeklärt wird. Aber zu dem Zeitpunkt habe ich nicht gesehen, dass das passiert."
Deswegen also Climaware, das sich aus den beiden Worten "Climate" und "Awareness" zusammensetzt. Baunachs Devise: Erst verstehen, dann handeln. "Ab dem Tag, wo ich die Entscheidung getroffen habe, den Podcast zu machen, hat für mich das Gefühl überwogen: Okay, ich tue was. Eine Möglichkeit für Baunach, seine Klimaangst zu besänftigen.
Und Climaware kommt an bei den Menschen, der Podcast geht durch die Decke – die Zahl der Zuhörenden wächst mit jeder Folge. Baunach fängt an, zusätzlich als Speaker aufzutreten, zu coachen. Sein Ziel: Den Menschen die Angst zu nehmen, ihren Blick auf sich und die Welt zu verändern. "Natürlich sollten wir unseren CO2-Fußabdruck reduzieren, aber ohne zu viel an Lebensqualität einzubüßen", sagt Baunach.
Er ergänzt:
Klima-Handabdruck meint: Strukturen verändern, den Wandel mitgestalten – ob bei der Arbeit in einer Task-Force, die sich dafür einsetzt, dass das eigene Unternehmen auf grünen Strom umsteigt. Ob in der Politik, auf Demos, an der Wahlurne oder im Gespräch mit den Nachbarn.
Es geht darum, sich zu trauen "unperfekten Klimaschutz" in der Öffentlichkeit zu fordern. "Wir Menschen sind so veranlagt, dass wir Heuchelei furchtbar finden, aber das ist leider gar kein guter Ansatz." Warum sollten SUV-Fahrende nicht die Grünen wählen dürfen? Warum sollten Viel-Fliegende nicht auf Fridays for Future-Demos gehen können? Warum sollten Klimaaktivisten kein Fleisch essen dürfen?
Es müsse Schluss sein mit dem "moralischen Fingerzeig", fordert Baunach. Keiner muss perfekt sein, um mehr Klimaschutz fordern zu dürfen. Weniger Schuld für alltägliche Entscheidungen, mehr Unterstützung für das große Ganze – Maßnahmen, Gesetze, Wahlen.
Baunach handhabt das genauso: Kaum Fleisch, keine Flüge mehr innerhalb von Europa, kein eigenes Auto. Und wenn er mal nach Amerika fliegt? Dann ist auch das kein Weltuntergang.
Stattdessen klärt er auf, rüttelt wach, bringt Menschen zum Umdenken. Er sagt: "Ich hätte es nicht ausgehalten, nicht zumindest das Gefühl zu haben, einen kleinen Tropfen im großen Ozean bewegt zu haben."