Ich kann es nicht leiden, wenn Schmeißfliegen auch nur in die Nähe meines Essens kommen, wenn Käfer jeder Art durch das gekippte Fenster gelangen und dann im Badezimmer herumkrabbeln oder Ameisen sich ihre Wege durchs Haus bahnen.
Früher hatte ich kein Problem, eine Fliegenklatsche in die Hand zu nehmen oder einen Käfer mit einem Küchentuch zu zerquetschen. Inzwischen fällt mir auf: Ich bin noch immer kein Freund von Insekten im Haus, aber ich versuche, sie zu verscheuchen oder hinauszubefördern, statt sie direkt umzubringen.
Es widerstrebt mir, ein Tier, das sich offensichtlich bewegt, zu töten. Oder wie mein Sohn letztens erkannte, als ich ihn davon abhielt, einen Käfer zu zermatschen: "Weil es ein Lebewesen ist?" Exakt!
Durch ihn und seine Bücher lerne ich gerade viel über Tiere: welche sozialen Gefüge teilweise dahinterstecken, welche Mühen. Ameisen sind sicher das Paradebeispiel. Ich bewundere es, dass Ameisen ein perfekt durchorganisierter Staat mit ausgeklügeltem Ameisenbau sind, in dem es Krankenpfleger, Gärtner und Bauarbeiter gibt. Dass sie das Vierzigfache ihres eigenen Gewichts tragen können, Informationen austauschen und Samen verbreiten, was unserem Ökosystem zugutekommt. Und ich nehme mir heraus, ein oder mehrere Rädchen in diesem intelligenten System zu zerstören?
Ein anderes Beispiel sind Tauben, die auf unserem Grundstück leben. Ja, es nervt, wenn sie auf unsere Terrasse kacken. Und ja, auch ich hatte ein bestimmtes Bild der "Ratten der Lüfte" im Kopf, das ich mit Krankheiten und Dreck verband. Ich dachte darüber nach, wie wir diese Tiere loswerden könnten. Als die Taube zum Vogel des Jahres 2020 gewählt wurde, las ich einen Artikel, der meine bisherige Denkweise veränderte.
Inzwischen habe ich festgestellt, dass unsere Tauben nicht mit Stadttauben vergleichbar sind. Sie wagen sich nie in unsere Nähe, gehen an kein Essen, das auf der Terrasse steht und meistens landet ihr Kot in der Nähe der Bäume.
Mein Sohn beobachtet, wie sie mit Zweigen im Schnabel in den Baumwipfel fliegen, um ein Nest zu bauen. Ich stelle mir vor, wie es wäre, wenn die Jungen geschlüpft sind und ein Elternteil nicht mehr zum Füttern kommt, weil es vorher von Taubenhassern abgeschossen wurde.
Woher dieser Wandel kommt? Ich denke, dass eine Abwehr, ein Lebewesen zu töten, schon immer in mir gesteckt hat. Trotzdem habe ich es getan, weil ich den Nutzen größer fand, keine Fliegen auf meinen Lebensmitteln oder keine Silberfische in meiner Pariser Badewanne zu haben.
Seit ich mich intensiver mit einem veganen Lebensstil beschäftige, bin ich bewusster gegenüber jeder Art von Lebewesen. Meine Sinne sind geschärft, mein Mitgefühl setzt sofort ein. Wenn ich sehe, wie ein Hundehalter seinen Hund an der Leine reißt oder ihm eine verpasst, trifft mich das – auch ohne eine vorausgegangene Beziehung zu diesem Tier. Und das, obwohl ich viele Hunderassen furchteinflößend finde. Weil ich mich in dem Moment in das Tier hineinversetze.
Melanie Joy, Professorin für Psychologie und Soziologie, beschreibt in ihrem Buch "Warum wir Hunde lieben, Schweine essen und Kühe anziehen", was Empathie mit Veganismus zu tun hat: "Wenn wir für jemanden Zeugnis ablegen, dann handeln wir nicht nur als äußerer Beobachter, sondern wir stellen eine emotionale Verbindung zum inneren Erleben des anderen her. Wir versetzen uns in ihn hinein. Und mit diesem Akt der Empathie schließen wir die Lücke in unserem Bewusstsein: jene Lücke, die das Gewaltregime des Karnismus am Leben erhält." (Unter Karnismus versteht Joy eine Ideologie, wonach das Essen bestimmter Tiere als ethisch vertretbar und angemessen betrachtet wird). "Zeuge sein bedeutet, sowohl die Verbindung zur Wahrheit der karnistischen Praktiken herzustellen als auch die Verbindung zu unserer inneren Wahrheit, unserer Empathie."
Sie weist zudem darauf hin, dass sich in der Forschung die Hinweise mehren würden, Empathie habe eine biologische Grundlage. Die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen sei somit angeboren. Wissenschaftliche Studien würden zeigen, dass unsere Spiegelneuronen unabhängig davon aktiv werden, ob wir selbst Ausführende oder nur Zeugen einer Handlung seien.
Was ein anderes Wesen empfindet, wüssten wir demnach nicht nur, weil wir versuchten, uns in seine Lage zu versetzen, sondern bis zu einem gewissen Grad auch deshalb, weil wir dasselbe empfinden würden. Es sei also normal, mit anderen mitzufühlen. Mit Menschen genauso wie mit Tieren. Oder wie mein Sohn aktuell sagen würde: Weil es Lebewesen sind.