Das Karrierehoch von Marc-André ter Stegen hielt knapp drei Wochen lang an. Der ewige Manuel Neuer hatte abgedankt und Bundestrainer Julian Nagelsmann den seit Jahrzehnten leise lauernden ter Stegen daraufhin in die erste Riege befördert. Der König Charles des Fußballs sprach von "Balsam für die Seele". Das war Anfang September. Und ist fürs Erste schon wieder vorbei.
Beim Spiel des FC Barcelona gegen Villareal knickte ter Stegen mit dem Knie weg und musste unter sichtlichen Schmerzen ausgewechselt werden. "Seine Schreie auf dem Spielfeld erschütterten seine Teamkollegen", schrieb die spanische Tageszeitung "Mundo Deportivo". Im Rollstuhl wurde der Torwart in Begleitung einer Armada an Betreuern später aus einer Klinik gerollt.
Die mittlerweile bestätigte Diagnose: ein Riss der Patellasehne. Im Raum steht eine Ausfallzeit von acht Monaten.
Nur wenige Stunden sind vergangen, da waberte in Deutschland wieder der Name durch die Nation, der ter Stegen über all die Jahre breitbeinig den Zutritt zur Karriere-Veredelung verweigert hatte. Kehrt der 38-jährige Manuel Neuer, der erloschen geglaubte Fixstern am Torwarthimmel, zurück in die Nationalmannschaft?
Erst Ende August hat Neuer nach 15 Jahren seinen Rücktritt aus dem DFB-Team bekannt gegeben. In der Geschichte des Fußballs hat es vermutlich keinen besseren Torwart gegeben – noch immer spielt er auf Weltklasseniveau. Nach der EM sagte Neuer, dass die Methode Kroos für ihn auch eine Option sei. Also: Eine Pause einlegen und zur WM zurückkehren. 2026 wäre er 40 Jahre alt.
Fest steht in jedem Fall: Hinter ter Stegen und Neuer klafft eine erhebliche Qualitätslücke.
Bei der Nummer zwei im deutschen Tor, hinter ter Stegen, gebe es "schon einen Konkurrenzkampf, den ich nicht künstlich anheizen will", sagte Nagelsmann Anfang September. Die möglichen Lückenfüller: Oliver Baumann und Alexander Nübel.
Der 34-jährige Baumann gehört seit Jahren konstant zu den besten Torhütern der Bundesliga, über 460 Spiele hat er für den SC Freiburg und die TSG Hoffenheim bereits absolviert. Ein im besten Sinn souveräner Rückhalt, allerdings ohne große Erfolge oder Renommee. Sein größter Erfolg ist die A-Junioren-Meisterschaft 2009. Für die Nationalmannschaft hat er noch kein einziges Spiel gemacht, bei der EM war er als Nummer drei dabei, wäre gemäß der Hierarchie also der logische Kandidat.
Im letzten Jahr, sagte Nagelsmann, sei Baumann "by the way" von den statistischen Werten einer der besten Torhüter in Europa gewesen. In dieser Saison musste er mit Hoffenheim aber in vier Spielen schon elf Mal hinter sich greifen.
Die andere Option ist Alexander Nübel, den mit ter Stegen verbindet, dass auch er jahrelang an Manuel Neuer verzweifelt ist. Von Schalke kam er einst zu den Bayern, um eines Tages den Platzhirsch zu beerben. In der Heranführung der Nachfolge gab es aber offenbar allerlei Missverständnis. Über den Umweg Monaco landete Nübel schließlich in Stuttgart.
Nübel habe "viel Potenzial", sagte Nagelsmann, ein Torwart, "der nicht so jung ist, wie man manchmal meint". Mit 27 Jahren sei er "eigentlich im besten Alter als Fußballprofi". Aus dem endgültigen EM-Kader ist Nübel noch gestrichen worden, auch er ist bislang ohne Einsatz für die A-Nationalmannschaft. In der Champions League sah er gegen Real Madrid zuletzt zweimal unglücklich aus.
Auf den Plätzen dahinter gibt es ein breites Kandidatenfeld, anführend vom aktuell verletzten Frankfurt-Torwart Kevin Trapp und Fulham-Keeper Bernd Leno. "Die Nummer eins steht fest", sagte Nagelsmann im September. "Aber dahinter ist es noch ein bisschen offen." Das letzte Wort habe Torwarttrainer Andreas Kronenberg, der im Detail entscheidet.
Noch vier Spiele bestreitet die deutsche Nationalmannschaft in diesem Jahr, das Nächste am 11. Oktober gegen Bosnien-Herzegowina. Bis zur Weltmeisterschaft 2026 ist es noch lange hin – die Entscheidung für die Nummer eins von Nagelsmann wird allerdings schon jetzt den Grundstein legen. Vor allem in der Begründung.
Als sich Manuel Neuer im Dezember 2022 einen Unterschenkelbruch beim Skifahren zugezogen hatte, ließen die Bundestrainer, erst Hansi Flick und später Julian Nagelsmann, keine Zweifel an seinem Status als unangefochtener Stammkeeper.
Jeder andere Torwart, und also vornehmlich ter Stegen, ist nur ein Stellvertreter auf Abruf – das war die klare Botschaft. Vor der EM legte sich Julian Nagelsmann bereits im April, Monate vor Turnierstart, auf Manuel Neuer fest. Zu einem Zeitpunkt, als ter Stegen auf seinem Zenit, und das Leistungsniveau von Neuer fraglich war.
Nagelsmanns Entscheidung für die kommenden Länderspiele ist also unbedingt richtungsweisend. Versucht er den frühverrenteten Neuer, der aktuell leichtere Oberschenkelbeschwerde laboriert, zu reaktivieren? Läutet er mit Alexander Nübel schon einen neuen Nachfolger ein, der die Ära ter Stegen vorzeitig ablöst?
Oder stellt sich der Bundestrainer mit Nachdruck, Risiko und blindem Vertrauen hinter seine "klare Nummer eins" ter Stegen – und verleiht dem Ersatz von Vornherein das Prädikat "Interim"?
Er werde auf und neben dem Platz sehr fehlen, sagte Nagelsmann am Montag. "Wir werden auf seinem Weg zurück immer für ihn da sein." Weiter wollte er das Thema aber nicht kommentieren, er müsse den "großen Schock für uns" erst einmal verdauen.