İlkay Gündoğan erzielte den 2:0-Siegtreffer für Deutschland.Bild: Imago Images / Ulmer/Teamfoto
Analyse
19.06.2024, 23:1520.06.2024, 08:23
max bergmann
Im zweiten Gruppenspiel der EM 2024 erwartete Deutschland nach dem fulminanten 5:1-Auftakt über Schottland, das Team aus Ungarn. Auch in dieser Partie sollte das deutsche Team seine Offensivfreude nicht vermissen lassen, wurde von Ungarns Defensive dabei jedoch vor eine neue Herausforderung gestellt.
Wie Nagelsmanns Taktik mit Jamal Musiala und Florian Wirtz die ungarische Defensive knackte, und Deutschland damit zum vorzeitigen Einzug in die K.o.-Runde brachte, erfährst du in der folgenden Analyse zum Spiel. Ebenfalls beleuchten wir, welche Schwachstellen die DFB-Elf in der Defensive noch beheben sollte.
Max Bergmann, hier noch beim Halleschen FC unter Vertrag, analysiert für watson die DFB-Spiele Bild: Imago Images / Picture Point LE
Über den Autor
Max Bergmann ist der jüngste Trainer in der Geschichte der 3. Liga. Im April 2022 vertrat der nun 26-Jährige den damaligen Cheftrainer, André Meyer, vom Halleschen FC. Mittlerweile ist Bergmann in Hoffenheim unter Vertrag und arbeitet dort als Co-Trainer der zweiten Mannschaft in der Regionalliga Südwest.
Ungarn nutzte eine ähnliche Grundformation wie Schottland, und spielte ebenfalls mit einer Fünferkette gegen die DFB-Elf. Das Defensivsystem unterschied sich jedoch dem der Schotten. Im Gegensatz zu dem verhaltenen schottischen 5-4-1, bei dem Toni Kroos nahezu ohne Gegnerdruck das deutsche Spiel aufziehen konnte, spielte Ungarn mehr in einem 5-2-3-System.
Das bedeutete, dass die Flügelangreifer auf den deutschen Dreieraufbau Druck ausübten. In Person von Liverpool-Angreifer Dominik Szoboszlai wurde Kroos an seinem Aufbauspiel gehindert (siehe Abb. 1 in rot markiert).
Abb. 1: Ungarn versuchte den Dreieraufbau der Deutschen in einem 5-2-3 zu pressen.Bild: Max Bergmann
EM 2024: DFB-Team passt sich an Ungarns Pressing an
Deutschland zeigte sich jedoch anpassungsfähig und variabel in der Lösungsfindung, was sich schon früh in dem Turnier als eine der deutschen Stärken hervorheben lässt. Die eingerückten Flügelspieler Musiala und Wirtz fungierten wieder gemeinsam mit İlkay Gündoğan als drei 10er im deutschen Offensivsystem und waren erneut die Schlüsselfiguren im Angriffsspiel. Ungarns Fünferkette nahm die deutschen Angreifer mannorientiert auf.
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Das bedeutete, dass die Halbverteidiger auf Musiala und Wirtz rausrückten, während die Außenverteidiger breit blieben, um die aufgerückten deutschen Außenverteidiger Kimmich und Mittelstädt zu verteidigen. So konnten Wirtz und Musiala Ungarns Halbverteidiger aus ihrer Position ziehen, indem sie sich auf der Ballseite nach außen fallen ließen, ein sogenanntes „Rauskippen“ aus ihrer ursprünglichen Position in der Halbspur.
Abb.2: Wirtz kippt diagonal raus und zieht Ungarns Halbverteidiger aus der Position, was Havertz Raum für ein 1v1 gibt.Bild: Max Bergmann
Durch die gezielte Manipulation, mit der Ungarns Halbverteidiger immer wieder aus ihrer Position gezogen wurden, war Havertz als tiefster deutscher Anspielpunkt in einer 1v1-Situation. Schaffte es die DFB-Elf diesen dann ins Spiel zu bringen, wurde es auch durch diese tiefen Bälle gefährlich vor dem ungarischen Tor.
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So kam Havertz beispielsweise in der elften Minute zu einer Gelegenheit, nachdem er sich gegen Ungarns Verteidiger Willi Orban durchsetzte. Dieses Mittel nutzte die DFB-Elf immer wieder, um hinter die ungarische Abwehrkette zu kommen. Oftmals war es Antonio Rüdiger, der einen tiefen Weg von Havertz bediente.
Das Einstreuen von tiefen Bällen in die Angriffe resultierte situativ darin, dass die Halbverteidiger Ungarns weniger mutig auf Wirtz und Musiala vor der Kette rausrückten. In solchen Momenten konnten die deutschen Kreativspieler angespielt werden.
Durch die Bewegungen der Angreifer war die DFB-Elf so stets variabel und nur wenig ausrechenbar. Die logische Konsequenz mehrerer Angriffe, die gefährlich bis vor das ungarische Tor vorgetragen werden konnten, war schließlich der 1:0-Führungstreffer.
Hierbei spielten die bereits erwähnten Positionierungen von Wirtz, Musiala und Havertz allesamt eine zentrale Rolle. Immer wenn Deutschland mit Wirtz auf den Flügel rauskippte, verschob Ungarn auf diese Seite. So befand sich Musiala in der ballfernen Halbspur häufig frei und konnte dem Spiel seinen Stempel aufdrücken.
EM 2024: DFB-Taktik stellt Ungarn vor schwere Entscheidung
Ungarn stand also immer vor der Qual der Wahl, entweder gegen Wirtz oder gegen Musiala in Überzahl zu verteidigen. Konnte Deutschland den freien Spieler von beiden finden, wurde es gefährlich. Weil Havertz durch einen tiefen Weg Ungarns Abwehrkette in der 22. Minute wegzog, konnte der breit positionierte Wirtz einen Ball vor die Kette auf Musiala spielen. Dieser leitete in der Folge seinen eigenen Treffer mit einem Pass auf Gündoğan ein.
Abb. 3: Musiala kann vor der Kette von Wirtz angespielt werden und den tiefen Weg von Gündoğan bedienen.Bild: Max Bergmann
Gündoğan bewegte sich wie beim 1:0 häufig entgegengesetzt zu Havertz. Einerseits um zu verhindern, dass Ungarn ein 2v1 gegen Havertz herstellen kann, andererseits um die freigezogenen Räume für sich selbst zu nutzen. Wenn Havertz also gelegentlich zentral blieb, belief Gündoğan die Tiefe. Bei einem tiefen Weg von Havertz wiederum positionierte sich Gündoğan vor der Kette.
So hatten Deutschlands Aufbauspieler immer mehrere Anspielpunkte und Ungarns Defensive wurde ständig mit Entscheidungen konfrontiert. Die Verbindung von Gündoğan und dem deutschen Stürmer ließ sich auch bei dem zweiten deutschen Treffer erkennen. Auch wenn zu diesem Zeitpunkt bereits Niclas Füllkrug statt Havertz auf dem Platz stand, zeigte sich Gündoğan hier bei Füllkrugs Weg Richtung Tor vor der gegnerischen Abwehrkette.
Abb. 4: Gündoğans Treffer zum 2:0 nach Vorlage von Mittelstädt.Bild: Max Bergmann
Mittelstädts flache Hereingabe vor die Abwehrkette wurde zur Torvorlage für Gündoğan. Die flachen Bälle im letzten Drittel lassen sich bereits als eine der Spezialitäten der deutschen Angriffe bezeichnen, nachdem bereits der Auftakttreffer im Turnier nach einer ähnlichen Hereingabe von Kimmich fiel.
Beachtlich außerdem (in Abbildung 4 zu sehen) wie hoch die Kette der deutschen rausschob und dadurch auch immer wieder ungarische Konter direkt verhindern konnte. So sorgte unter anderem ein gewonnener Zweikampf von Innenverteidiger Tah unmittelbar nach Ballverlust direkt für einen Gegenangriff, der in dem 1:0-Treffer resultierte.
EM 2024: Trotz Sieg wird auch DFB-Schwachstelle offensichtlich
Im Spiel gegen Ungarn kristallisierte sich allerdings auch eine Schwachstelle in der deutschen Defensive heraus. Insbesondere zwischen Deutschlands Außenverteidiger und Innenverteidiger konnte Ungarn gefährlich werden. Innenverteidiger Rüdiger schob zwar bis auf den Flügel, um den Raum hinter Rechtsverteidiger Kimmich zu sichern, kam dabei aber zu selten in den Zweikampf.
Dies resultierte unter anderem in einer 1v1-Situation im Strafraum in der 59. Minute, bei der Ungarn nur knapp den Ausgleich per Kopf verpasste.
Abb. 5: Rüdiger rückt raus, kann den tiefen Pass aber nicht verhindern und Andrich hat den Bewegungsnachteil.Bild: Max Bergmann
Da Andrich als defensiver Mittelfeldspieler tiefe Laufwege aus dem Mittelfeld aufnahm, hatte dieser den Bewegungsnachteil. Zudem öffnete der Laufweg von Sechser Andrich besonders in Umschaltmomenten nach Ballverlust, wenn Kroos nicht mehr in seiner zentralen Position war, den Raum vor der Abwehrkette. Eine Spielsituation, die Deutschland möglichst vermeiden sollte, denn diese sorgte für mehrere gute ungarische Angriffsmöglichkeiten.
Das Spiel gegen Ungarn hält auch Dank des positiven Ausgangs die Euphorie in Deutschland weiter hoch. Und wenn die DFB-Elf es weiterhin schafft, ihre Gegner in die Entscheidung zu zwingen, entweder Wirtz oder Musiala zu verteidigen, kann dies der Schlüssel zum Erfolg sein. Denn einer von beiden wird infolgedessen genug Raum bekommen, um für Gefahr vor dem gegnerischen Tor zu sorgen. Es bleibt demnach weiterhin der variable Angriff der Deutschen, der Mut macht.
Nichtsdestotrotz wird Julian Nagelsmann am Kettenverhalten seines Teams pfeilen müssen, um auch defensiv weiter die Leistung der DFB-Elf zu optimieren. Schon am Sonntag gegen die Schweiz wird die deutsche Abwehr erneut auf die Probe gestellt.