Maxi Mittelstädt (M.) bejubelte gegen die Niederlande in seinem zweiten DFB-spiel seinen ersten Treffer.Bild: www.imago-images.de / pepphoto
Fußball-Kolumne
In seiner wöchentlichen Kolumne schreibt der Fanforscher Harald Lange exklusiv auf watson über die Dinge, die Fußball-Deutschland aktuell bewegen.
Zwei Länderspiele gegen starke Gegner haben genügt um Zuversicht zu streuen. Noch vor einer Woche war von Vorfreude auf die Europameisterschaft praktisch nichts zu spüren. Sämtliche Sympathiewerte befanden sich im Keller. In einer repräsentativen Umfrage unter Fußballfans, die wir gemeinsam mit den Meinungsforschern von FanQ durchgeführt hatten, gaben 47,9 Prozent an, dass sie von der DFB-Elf erneut ein Ausscheiden nach der Vorrunde erwarten.
Heute zeigt das Stimmungsbarometer in eine ganz andere Richtung. Die selbstbewussten und spielerisch überzeugenden Auftritte gegen Vizeweltmeister Frankreich und die starken Niederländer haben vorerst alle Zweifel zerstreut und den Fußballfans in diesem Land endlich wieder Hoffnung vermittelt.
Fan-Forscher Harald Lange.Bild: Uni Würzburg
Über den Autor
Harald Lange ist seit 2009 Professor für Sportwissenschaft an der Universität Würzburg. Er leitet den Projektzusammenhang "Fan- und Fußballforschung" und gilt als einer der bekanntesten Sportforscher in Deutschland. Der 55-Jährige schreibt und spricht täglich über Fußball, auch in seinem Seminar "Welchen Fußball wollen wir?"
Wie groß die Sehnsucht nach einer starken Nationalmannschaft war, lässt sich auch an den Statements vieler Fußballexperten festmachen, die in den zurückliegenden Jahren ähnlich gelitten hatten wie die erfolglosen Trainer der zurückliegenden Jahre. Nach dem Frankreich Spiel ließ sich Lothar Matthäus – euphorisiert vom neuen Spielgenuss – sogar dazu hinreißen, die Nagelsmann-Elf als Favoriten um den EM-Titel auszurufen: "Diese Mannschaft kann nicht nur Europameister werden, sie muss es werden."
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Bis zu den letzten Testspielen der Nationalelf gegen die Ukraine und Griechenland haben wir noch knapp zehn Wochen Zeit, das gute Gefühl aus den beiden Siegen der letzten Tage ausgiebig auszukosten und die EM-Vorfreude auf diese Mannschaft wachsen zu lassen. Das Gefühl ist auch deshalb so schön, weil es so überraschend daherkommt. Ich möchte deshalb die Gelegenheit nutzen und sechs Einsichten zu diesem beeindruckenden Stimmungswechsel festhalten.
Stimmung
Die Durststrecke war eindeutig zu lang. Deshalb müssen sich die Fans erst wieder daran gewöhnen, Stimmung zu machen. Das bemerkte auch Mittelstürmer und Torschütze Niclas Füllkrug, der nach dem Spiel in Frankfurt den Vorschlag unterbreitete, einen "Vorsänger" zu installieren, der die Anfeuerung orchestriert. Seine Begründung: "Man hat gemerkt, die Leute wollten uns anfeuern, sie wollten uns unbedingt positive Gefühle auf den Platz geben, aber sie sind nicht so auf einen Nenner gekommen. Also brauchen wir eine kleine Gruppierung, die den Takt vorgibt für die EM." In der Bundesliga sind die Ultras für so etwas zuständig.
"Ich drücke deshalb die Daumen, dass beim DFB jetzt niemand auf die Idee kommt, Animateure für diesen Job abzustellen."
Wir brauchen auch im Umfeld der Nationalmannschaft eine freche und mutige Fankultur, die ihrer Begeisterung freien Lauf lassen kann. Ich drücke deshalb die Daumen, dass beim DFB jetzt niemand auf die Idee kommt, Animateure für diesen Job abzustellen, um Klamauk in die Fußballstadien hinein zu holen.
Mutiger Trainer und junge hungrige Spieler
Sportlich steht es um den Deutschen Fußball gut. Der mutige Trainer Julian Nagelsmann kann im Grunde aus dem Vollen schöpfen und hat das Team in Teilen einfach ausgetauscht und neu aufgestellt. Es gibt genügend hungrige Talente in diesem Land und die daheim gebliebenen Etablierten wissen nun, dass sie sich mächtig anstrengen müssen, um eine zweite Chance zu bekommen. Der Spitzenfußball muss sich auch zukünftig vielmehr an dem Prinzip Leistung ausrichten.
Kroos als Kopf der Mannschaft
Um Toni Kroos beneidet uns ganz Europa. Er ist das Herz und der Kopf der Mannschaft. In seinem Schatten können sich die jungen Spieler frei entfalten und mutig aufspielen. Ein Jammer, dass er so lange gefehlt hat. Für die Zukunft brauchen wir Talentförderprogramme, Nachwuchsligen und Bundesligamannschaften, in denen solche Führungsspieler heranwachsen und reifen können.
DFB-Führung draußen halten
Noch am Tag vor dem Frankreich-Spiel brüskierten die DFB-Oberen die fußballinteressierte Öffentlichkeit mit der Nachricht von der Adidas Trennung. Mehr als 70 Jahre gemeinsame Tradition wurden für beendet erklärt und mit dem Versprechen verbunden, dass die millionenschweren Mehreinnahmen dem Breitensport zugute kommen sollen.
Es wurden weder Zahlen noch Konzepte benannt und die Fans quittierten diesen angesammelten Vertrauensverlust mit einem klaren Misstrauensvotum. In einer repräsentativen Civey-Umfrage bewerteten nur 10 Prozent der Fußballfans den Nike-Deal des DFB als "gut" Mehr als 67 Prozent finden ihn "schlecht".
Das in der Folge ausgetragene Ping-Pong aus Empörung und Gegenempörung zwischen populären Politikerzitaten und beleidigten DFB-Erwiderungen hilft niemanden und schadet allein der Stimmung und Glaubwürdigkeit. Die DFB Spitze sollte sich in den kommenden Monaten darum bemühen möglichst unsichtbar zu bleiben.
Freiheit und Spielfreude
Das neu formierte Nagelsmann-Team steht einerseits für den Mut des Trainers und andererseits für die Freiheit und Freude am Spiel. "Einfach Kicken" waren des Trainers Worte vor dem Frankreich-Spiel. Es würde sich lohnen auch in Zukunft vielmehr von der Verspielt- und Einfachheit des Fußballs zurück zu holen!
Analysen und Prognosen
Ich möchte meine sechs Einsichten aus dem jüngsten Wandlungsprozess der Nationalmannschaft mit einem klugen Satz von Sepp Herberger abschließen: "Die Leute gehen ins Stadion, weil sie nicht wissen, wie es ausgeht." Julian Nagelsmann hat diese Weisheit mit seinem Mut, alles auf diese eine Karte zu setzen und den radikalen Umbruch zu wagen, ganz markant unterstrichen.
Es hätte auch schiefgehen können. Trotz der beeindruckenden Analysemöglichkeiten bleibt auch der Profifußball immer ein Spiel mit ungewissem Ausgang. Und allein aus diesem Grund bleibt es bis zu den kommenden Testspielen Anfang Juni und darüber hinaus spannend. Ich freue mich darauf.
Für die ersten 39 Minuten gegen Union Berlin fanden die Verantwortlichen des VfB Stuttgart am Freitagabend noch deutliche Worte. Es sei "schwere Kost" gewesen und das Spiel "mutlos", sagte Trainer Sebastian Hoeneß.