watson: Sebastian, kannst du erklären, weshalb der Trainerstuhl beim FC Bayern in den letzten Jahren einer der großen Schleudersitze der Bundesliga ist?
Sebastian Kneißl: Man merkt beim kompletten Verein, dass die lang gelebte Identität nicht vorhanden ist. Nachdem Hoeneß und Rummenigge raus waren, haben Oliver Kahn und Hasan Salihamidžić versucht, ein neues "Mia-san-mia"-Image aufzubauen. Das hat nicht geklappt. Das Resultat spiegelt sich immer auf dem Platz wider und da ist der Hauptverantwortliche eben der Trainer.
Also geht die aktuelle Krise auch auf den gescheiterten Versuch mit Kahn und Salihamidžić zurück?
Es gibt nicht diese eine Position, die Schuld daran ist. Alle Positionen haben Fehler gemacht – jetzt auch unter Tuchel. Ich würde einen größeren Anteil der Schuld bei der Mannschaft sehen, weil sie letztlich die ausführende Kraft ist.
Wäre es dann aber nicht konsequent gewesen, mit Tuchel weiterzumachen und den Spielern klarzumachen, dass sie sich ändern müssen?
Mittlerweile haben die Spieler in diesem Sport zu viel Kraft bekommen. Das spiegelt sich auch bei ganz jungen Fans wider: Die unterstützen einen Spieler und wechseln dann auch mit ihm den Verein. Außerdem sind sie die ausführende Gewalt. Die Vereine haben sich das selbst eingebrockt.
Wie?
Mit Kompromisslösungen, wie, dass ein Spieler das Kapitänsamt versprochen bekommt, wenn er seinen Vertrag verlängert oder horrende Summen an Gehalt bezahlt werden. Da machen die Klubs die Tür für diese Entwicklung auf. Die Spieler nehmen solche Vorteile natürlich dankend an, das würde jeder.
Die Bayern haben in ihrer Pressemitteilung von "Neuausrichtung" gesprochen. Was muss sich – abgesehen von der Trainerposition – noch im Kader tun?
Eine Neuausrichtung oder ein Umbruch geht mit einem klaren Plan erkennbar einher. Intern werden sie ihn haben, öffentlich haben sie das noch nicht thematisiert. Ein Beispiel: Wenn ich über Kieran Trippier spreche und am Ende Sacha Boey kaufe, wirkt das wie ein Panikkauf. Beides sind völlig verschiedene Spielertypen.
Gibt es auch positive Dinge?
Grundsätzlich mag ich die Denkweise von Uli Hoeneß, der mal sagte, dass der Klub die Spieler stellt und der Trainer daraus eine Mannschaft formen muss. Dadurch machst du dich unabhängig von einem einzelnen Trainer. Aber trotzdem hinterfrage ich die Wahl von Tuchel.
Warum genau?
Weil Julian Nagelsmann inhaltlich auch top ist, aber es nicht geschafft hat, die Mannschaft zu führen. Dann kann ich mir nicht einen Trainer holen, der zur gleichen Kategorie Trainertyp gehört.
Glaubst du, dass die Bayern es überhaupt mit Tuchel bis zum Saisonende durchziehen können?
Bei so etwas kommt ja schnell die Lame-Duck-Problematik auf. Die Spieler, die ihn nicht mögen, sind jetzt erleichtert. Es kommt aber auf die Persönlichkeitsstruktur jedes einzelnen Spielers an. Bei den Top-Profis siehst du jetzt, wer Top-Leistung bringt.
Also zeigt sich, wer unabhängig vom Trainer durchzieht?
Ich denke, da wird ganz Fußballdeutschland kritisch draufschauen. An den kommenden Monaten hängen zukünftige Karriereverläufe. Ganz Europa wird jetzt schauen, wer sich vorbildlich verhält und dadurch das Zeug zum Top-Star hat. Jeder muss sich aber auch für die neue Saison beim FC Bayern empfehlen.
Besteht die Gefahr, dass dadurch ein zu großer Egoismus entsteht?
Beim FC Bayern ist das Wort "Ego" ganz wichtig. Immer wieder hatte der Klub große Egos. Aber die Egos von früher und heute unterscheiden sich. Stefan Effenberg, Oliver Kahn oder auch Bastian Schweinsteiger, Franck Ribéry und Arjen Robben haben ihr Ego ins Mannschaftsgefüge eingebracht für den gemeinsamen Erfolg. Bei den aktuellen Spielern habe ich das Gefühl, dass das Ich vor dem Wir steht.
Werden die Klub-Verantwortlichen daraus das nötige Fazit ziehen und wieder einen Trainer holen, der sich besonders durch Menschenführung auszeichnet?
Da bin ich sehr gespannt. Xabi Alonso gilt ja als heißester Kandidat. Den sehe ich aber nicht in München.
Wieso?
Ich glaube, da steht Liverpool höher im Kurs oder er bleibt noch ein weiteres Jahr in Leverkusen, spielt mit der Werkself Champions League und geht dann nach Liverpool.
Wen könntest du dir dann in München vorstellen?
Ich hätte mir meinen alten Trainer, José Mourinho, gewünscht. Er hätte bei einer Tuchel-Entlassung bis Sommer übernehmen können.
Dann würden die Bayern-Fans in dieser Spielzeit aber keinen schönen Fußball mehr sehen.
Definitiv nicht. Aber er würde bei den Egos dazwischenhauen. Auch wenn kein attraktiver Fußball gespielt werden würde, würde er auf die Ergebnisse gehen. Die Auswahl des neuen Trainers wird der letzte Schuss für der Verantwortlichen sein. Es waren zu viele Trainer, die nicht funktioniert haben.
Würde José Mourinho es denn überhaupt nur für ein paar Monate in München machen?
Ich glaube nicht. Oder zumindest würde er sich mit einer Klausel sichern, dass sich der Vertrag verlängern würde, wenn er ein bestimmtes Ziel erreicht. Ich würde es mir wünschen, weil ich glaube, dass es helfen würde. Aber ich glaube nicht, dass es realistisch ist.
Es gab in den letzten Tagen verschiedene Berichte, laut denen Tuchel einige Spieler der Kabine verloren haben soll. Wenn so etwas in den Medien aufkommt, ist es dann schon zu spät oder kann der Trainer noch etwas retten?
Das Gefühl kenne ich aus meiner eigenen Karriere. In einem Jahr habe ich 31 von 34 Spielen gespielt, in der zweiten Spielzeit keine Minute. Wenn du dann gut trainierst und selbst die Mannschaft sagt, dass sie nicht versteht, weshalb du nicht spielst, dann fühlt sich jedes Wort des Trainers falsch an. Das beste Beispiel bei Bayern ist aktuell Mathys Tel.
Weil er immer Schwung reinbringt, aber nie von Beginn an ran darf?
Jedes Mal, wenn er gespielt hat, liefert er. Er beeinflusst das Spiel zum Positiven. Jetzt sagt Tuchel, dass Tel sein Momentum verloren hätte. Das kann sein, aber da muss sich Tuchel die Frage gefallen lassen, welche Schuld er selbst trägt? Wenn ein junger Spieler über Wochen liefert, aber keine Chance von Beginn bekommt, ist Resignation oder ein Spannungsabfall eine verständliche Reaktion.
Unter Thomas Tuchel waren Thomas Müller, Joshua Kimmich und Leon Goretzka nicht unumstritten. Hat er sich dadurch selbst eine Baustelle aufgemacht?
Man muss immer im Kopf haben, dass Thomas Tuchel ein Welt-Trainer auf allerhöchstem Niveau ist. Er hat immer wieder gute Ideen, manchmal vielleicht auch abgefahrene Ideen, die nicht aufgehen. Dass es beim FC Bayern aber nicht nur um den Inhalt geht, war auch klar. In München brauchst du auch eine gute Menschenführung, musst ein Gefühl für die Dynamiken entwickeln und Leute wie Neuer, Müller, Goretzka und Kimmich mit einbeziehen. Bei einer Sache bin ich aber klar bei ihm.
Bei welcher?
Joshua Kimmich spielt eine gute Rolle als Sechser, aber er ist keine Weltklasse. Da hätte ich mir von Tuchel ein bisschen mehr Konsequenz gewünscht. Wenn er sagt, dass er ihn nicht auf dieser Position sieht, muss er ihn als Rechtsverteidiger aufstellen oder im Mittelfeldzentrum nur bei Spielen, bei denen es wirklich passt.
Was hältst du von der Prämisse, dass in München ein deutschsprachiger Trainer arbeiten muss?
Wenig, weil sich die Vereine dadurch limitieren. In Zeiten der Globalisierung und der Erschließung neuer Märkte ist es wichtig, den bestmöglichen Trainer zu verpflichten. Wenn der dann englisch-, italienisch- oder französischsprachig ist, dann muss man ihn holen.