Die Deutsche Bahn verursacht, na klar, wieder einmal Probleme. Vom Münchener Hauptbahnhof soll es für James, Jake, Callum, Ben und Max aus Birmingham am Mittwochmorgen nach Dortmund gehen, EM-Halbfinale gegen die Niederlande. "It’s Coming Home", sagen sie mit einem fast schon sarkastischen Lachen und mit Blick auf die bisher dürftigen Leistungen des englischen Teams.
Da hatten sie noch keine Ahnung, dass sie sich um 22.50 Uhr schreiend in den Armen liegen werden. Kurze Körpertäuschung, präziser Abschluss: Ollie Watkins, der vorher fast keine Rolle im Turnier gespielt hatte, lässt die Zehntausenden englischen Fans mit seinem 2:1-Siegtor gegen die Niederlande im Dortmunder Stadion und den Fanzones komplett eskalieren.
Nach dem verlorenen EM-Finale im heimischen Wembley-Stadion 2021 soll am Sonntag im Berlin die Wiedergutmachung folgen. In England warten sie seit dem WM-Titel 1966 sehnsüchtig auf einen Erfolg im internationalen Fußball.
Zeit für englische Fans, einmal Bilanz zum womöglich historischen Turnier zu ziehen.
Doch der Weg nach Berlin über Dortmund ist nicht nur für die spielerisch biederen Three Lions zäh, sondern auch für die Fans. Der Zug kommt nicht. Statt vom Münchener Hauptbahnhof startet der ICE am Mittwochmorgen erst in Nürnberg. Fahrgäste sollen den Zug vom gegenüberliegenden Gleis nehmen, um nach Nürnberg zu kommen und dort in den eigentlichen Zug steigen. Diese Information gibt es jedoch exklusiv auf Deutsch.
Spanische und französische Fans, die vom ersten Halbfinale noch in der Stadt sind und viele Engländer:innen stehen verloren auf dem Bahnsteig und blicken verwirrt auf die Anzeige. Einige versuchen per Google Übersetzer zu entschlüsseln, was sich denn nun geändert hat.
"Hätte uns nicht ein anderer Fahrgast gesagt, dass wir den Ersatzzug nehmen müssen, würden wir immer noch da stehen", sagt James im Gespräch mit watson. "Wir haben es dann weiteren England-Fans gesagt."
Dass die Deutsche Bahn die Fans nicht immer zielsicher in die gewünschte Stadt bringt, mussten während des Turniers schon viele Fußballfans erfahren. Selbst die "New York Times" bilanzierte: "Einst der Goldstandard des Bahnverkehrs in Europa, ist die Deutsche Bahn heute weit von diesem Höhepunkt entfernt."
Einen Tag vor dem Halbfinale hatte auch das niederländische Team seine Erfahrung gemacht, als ihr Zug von Wolfsburg nach Dortmund kurzerhand gestrichen wurde.
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Die fünf Jungs aus Birmingham können diese Einschätzung nicht teilen. "Es ist der erste Zug, wo etwas schlecht läuft. Ansonsten haben wir gute Erfahrungen gemacht." Nur einmal sei ein Zug 15 Minuten zu spät gekommen, weil etwas auf der Gleise lag. "Aber dafür kann niemand was", sagt Jake.
Dann haben auch sie ihren Deutsche-Bahn-Moment: unplanmäßiger Halt mitten auf der Strecke wegen "dringender Bauarbeiten". Anstehen vor dem Bahnhof, weil zu viele, ebenfalls verspätete, Züge die Gleise blockieren. Am Ende steht eine Stunde Verspätung. Ein Glück beginnt das Halbfinale erst um 21 Uhr.
Lobende Worte gibt es hingegen für den ÖPNV in den Städten. Das sehen jedoch nicht alle ihre Landleute so. Nach dem Final-Einzug herrschte am Mittwochabend auf dem Dortmunder Hauptbahnhof pures Chaos. "Lächerlich" und "absolute Shitshow" waren da noch die zitierfähigsten Aussagen hinsichtlich maßlos überfüllter Züge, massiv verspäteter Abfahrten, ausgefallener Verbindungen und nicht vorhandener Kommunikation.
Doch ihr Lachen haben sie nicht verloren – was aber auch an der Fahrkartenkontrolleurin im ICE liegt. Bei jedem Einzelnen versuchte sie es mit Deutsch, erhält jedoch immer nur ein ernüchterndes "english" als Antwort. Also scannt sie die Tickets seelenruhig und bringt mit ihrem starken sächsischen Akzent jeweils die Wörter "Pläddform" und "sevän" heraus.
Trotz kleinerer Verständnisprobleme stellt die Jungs-Gruppe Deutschland ein gutes Zeugnis als Gastgeber aus. "Wir haben beispielsweise das deutsche Spiel gegen Spanien im Olympiastadion mit 30.000 Fans geschaut. Diese Atmosphäre war großartig."
Von ihrem "Teamquartier" in München ging es für die fünf während des Turniers vor allem nach Nordrhein-Westfalen, wo die Three Lions vier ihrer fünf Spiele bestritten haben. Und das, obwohl sie nicht einmal Tickets für die Partien hatten. "Wir wollten einfach die Stimmung im Land erleben, wenn England spielt. Die Fanzones waren super, um die Spiele zu sehen."
"Am Ende des Turniers werden wir sechs Millionen Menschen in den Fanzones ungefähr gehabt haben", nannte Turnierdirektor Philipp Lahm bei MagentaTV eine erste Zahl.
Trotz der vielen Besucher:innen loben die Jungs aus England die gemeinsamen und friedlichen Partys der Fans in den Innenstädten. Ihr Freizeitprogramm war klar strukturiert: "Wir haben die sechs großen Brauereien in München ausprobiert", sagte Jake nicht ohne einen gewissen Stolz.
Doch auch die kleineren Orte abseits der Großstädte hätten ihnen gefallen.
Ihr eigenes Team sehen die Engländer hingegen um einiges kritischer. Die bisherigen Leistungen seien auch für sie enttäuschend. Langweiliger Sicherheitsfußball, bei dem in einigen "brillanten Momenten" die Klasse der Top-Spieler zum Vorschein gekommen sei. Aber immer nur dann, wenn das Team hinten lag. "Also vielleicht starten wir einfach immer mit einem 0:1-Rückstand", schlägt einer der Jungs vor.
Gegen die Niederlande ist dann wieder so ein Moment. Frühes Gegentor durch Xavi Simons, dann spielten die Three Lions wie entfesselt. Nur, um im zweiten Durchgang bis zur 90. Minute wieder in alte, triste Zeiten zu verfallen.
Die Debatte um Trainer Gareth Southgate, der sein so talentiertes Team einen einschläfernden Fußball spielen lässt, hat aber schon während des Turniers an Fahrt aufnehmen. Der 53-Jährige, der die Three Lions seit September 2016 trainiert, hatte bereits vor dem Turnier gesagt, dass seine Zeit als Nationaltrainer wahrscheinlich beendet sei, wenn er nicht den Titel gewinne.
Selbst bei einem EM-Triumph glauben Jake und seine Gruppe nicht, dass er Trainer bleibt.
Nachfolger-Kandidaten gibt es einige. Thomas Tuchel wurde bereits vor zwei Jahren als Southgate-Nachfolger gefordert und dann ist da noch die Königslösung. Denn nicht nur in Deutschland träumen die Fans von Jürgen Klopp als Nationaltrainer – auch wenn dieser eine mindestens einjährige Fußballpause einlegen wird.
Für James sei es zwar klar, dass das Team einen anderen Stil spielen müssen, aber beide seien keine gute Lösung. "Ich weiß nicht, ob wir einen deutschen Trainer haben können", sagt einer und alle fangen an zu lachen.
Doch bei der Southgate-Nachfolge wird es schnell wieder Ernst. Sie sprechen sich für Eddie Howe aus, der das neureiche Newcastle United in die Champions League geführt hatte. Und auch Graham Potter, gescheiterter Tuchel-Nachfolger beim FC Chelsea, sei ein Top-Kandidat. "Wir brauchen einfach einen englischen Trainer, das passt einfach besser", sind sie sicher.
Doch erstmal geht es darum, den Titel am Sonntag nach Hause zu bringen. Das Finale im Berliner Olympiastadion wird das Quintett nicht mehr in Deutschland verfolgen. Am Samstag geht es zurück nach Birmingham. Ganz nach dem Motto: "It's Coming Home."