Wie weit wird Wladimir Putin gehen? Die Frage treibt die ganze Welt seit Wochen und Monaten um. Mit Raketen-Angriffen auf zivile Ziele und lebensnotwendige Infrastruktur brachte der russische Präsident in den letzten Tagen den Krieg in der Ukraine auf eine neue Eskalationsstufe. Und über allem stehen die Drohungen eines Atomschlags. "Raketen auf zivile Ziele – Ist Putin noch zu stoppen?", fragte deshalb Anne Will am Sonntagabend.
Mit folgenden Gästen diskutierte Anne Will am 17. Oktober 2022:
Die zugeschaltete Weisband prophezeite, dass Putin angesichts der aktuell für Russland schwierigen Kriegsphase bald für eine Waffenstillstand werben werde. "Das Beste, was ihm jetzt passieren kann, ist ein Einfrieren des Konflikts", vermutete Weisband. Dann könne Putin seine Truppen neu gruppieren und die Invasion im Januar oder Februar fortsetzen. "Das Beste, was wir machen können, ist nicht darauf einzugehen, sondern die aktuelle Offensive der Ukraine zu nutzen, um die Städte und die Zivilbevölkerung zu befreien", erklärte Weisband weiter.
Für Russland-Expertin Pagung wäre dies aus Sicht Putins zwar ein "cleverer Schachzug", sie teilte Weisbands Einschätzung über einen Waffenstillstand aber nicht. Mit der aktuellen Verschärfung und der gezeigten Brutalität von Seiten Russlands gebe es kaum Möglichkeiten für einen Kompromiss oder Gespräche. "Es geht darum, der Ukraine massiven Schaden zuzufügen, um ihre Fähigkeiten für eventuelle Rückeroberungen zu minimieren", erklärte die Politologin ihre Sicht auf die Strategie des Kremls.
Marie-Agnes Strack-Zimmermann war erst kürzlich aus der Ukraine zurückgekehrt, unter anderem hatte sie die Ruinen des havarierten Atomkraftwerks Tschernobyl besucht. In dem Gebiet hatten russische Soldaten in der verstrahlten Erde Schützengräben ausgehoben und verseuchtes Wasser getrunken. "Das zeigt, dass Wladimir Putin auch seine eigenen Leute einfach verheizt", sagte die FDP-Politikerin.
Daran knüpfte Viktor Jerofejew direkt an. Als einer der bedeutendsten russischen Schriftsteller der Gegenwart traf Jerofejew Putin mehrfach, schon in den letzten Jahren hatte er ihn immer wieder kritisiert. Am Sonntagabend bei Anne Will zeichnete Jerofejew, der nach Kriegsbeginn mit seiner Familie nach Deutschland geflohen war, ein ebenso beeindruckendes wie beängstigendes Bild des russischen Machthabers.
Ob beim Untergang des U-Bootes Kursk, im Kaukasus- oder Tschetschenien-Krieg, Menschen seien Putin immer völlig egal gewesen, sagte Jerofejew. Er bezeichnete Putin aufgrund seiner Herkunft aus einfachen Verhältnissen als "Gopnik", was der Simultan-Dolmetscher mit "Hinterhofschläger" übersetzte. Putin sei ein gnaden- und kompromissloser "Mensch des Krieges", der aus Langeweile die Ukraine angegriffen habe, weil es ihm nicht gelungen sei, Russland zu modernisieren oder wirtschaftlich erfolgreich zu machen.
Die Angriffe auf die zivilen Ziele in der Ukraine bezeichnete Jerofejew als Verzweiflung und sogar als "Todesschmerz" des Putin-Regimes, das mehr und mehr realisiere, den Krieg nicht gewinnen zu können. Der russische Staat sei eine Leiche, "und die Menschen laufen wie Ameisen, um von dieser Leiche wegzukommen", beschrieb der Schriftsteller die aktuelle Fluchtwelle vieler Menschen aus Russland.
Allerdings geht Jerofejew nicht davon aus, dass Putin deshalb weniger gefährlich sei. "Er ist bereit, die Welt zu zerstören. Mit sich zusammen. Er wird alles tun, um am Ende nicht als Verlierer da zu stehen", warnte er.
Die Frage, ob Putin wirklich alles zuzutrauen sei, gab Anne Will an Martin Schulz weiter. Der SPD-Politiker bejahte und erklärte, dass er Putin immer noch als den KGB-Agenten wahrnehme, der dieser einst war. Ein Meister der Täuschung, der alle Optionen ziehe, auch wenn dies ein terroristisches Vorgehen gegen andere Menschen erfordere.
Aber am Ende sei es so, dass Geheimdienstler "niemals den Schritt gehen, ihr eigenes System zu vernichten", vermutete der ehemalige Kanzlerkandidat der SPD. Zwar müsse man die Atomdrohungen ernst nehmen, aber Russlands Führung wisse natürlich auch, wie die Antwort des Westens auf einen möglichen Einsatz von Atomwaffen ausfallen werde. "Deshalb glaube ich, dass man die große Angst vor den Atomschlägen nicht haben muss. Das ist Teil dieses Geheimdienstkonzeptes, des Täuschens, des Drohens und Spaltens", vermutete Schulz.
"Die stärkste Waffe Putins ist unsere Angst", zeigte sich auch Weisband überzeugt. Das beste Gegenmittel sei es, mit Geschlossenheit, Entschlossenheit und Solidarität auf Putins Drohungen zu reagieren. Die Runde war sich einig, dass die Ukraine weiterhin konsequent bei der Verteidigung ihres Landes unterstützt werden muss. "Die Zerstörung von Mariupol allein ist ungefähr äquivalent zu fünf taktischen Atomwaffen", nannte Weisband ein eindrucksvolles Beispiel für die Auswirkungen des Krieges und die Leiden der Ukrainer:innen. Es war einer von vielen bemerkenswerten Sätzen in einer spannenden und informativen Talkrunde bei Anne Will am Sonntagabend.