Alles begann auf einer Liege an der türkischen Ägäis. Noch im Urlaub hatte ich mir im vergangenen Jahr voller Vorfreude Tickets für die EM in der Schweiz gekauft – zehn Minuten nach dem offiziellen Verkaufsstart. In meinen Augen hatte ich es da schließlich mit einem Großevent zu tun, bei dem Karten ähnlich schwer zu ergattern sind wie bei einem Taylor-Swift-Konzert. In meinem iPhone war sogar extra eine Erinnerung hinterlegt.
Man merkt: Ich bin Fan von unseren Mädels DFB-Frauen. Daran mag so manche:r kritisieren, dass einzelne Figuren der Mannschaft zu sehr im Fokus stehen. Zu wenig würde über sportliche Leistungen geredet und zu viel über den Pferdeschwanz von Giulia Gwinn, sagen schließlich manche.
In dieser Kritik steckt ein Funken Wahrheit. Auch ich könnte auf das fünfte Unternehmen verzichten, das mit Gwinn Werbung macht, nur weil sie vor allem für die männliche Welt das einzig Spannende am Fußball der Frauen ist.
Andererseits ist nichts schlimmer als eine Europameisterschaft, über die niemand spricht – und sei es auch nur im Zusammenhang einzelner Spieler:innen. Aber, Spoiler: Genau das passiert gerade.
Nicht nur auf Sportwebsites wie "Kicker" oder "Onefootball" ist der Transferpoker um Nick Woltemade gerade spannender als die EM im Nachbarland. Auch die Kneipen und Biergärten in Deutschland haben den Hype verschlafen – oder gab es eigentlich nie einen?
Kurz vor dem Eröffnungsspiel Anfang Juli begab ich mich auf die Suche nach einem guten Ort für Public Viewing. Im vergangenen Jahr gab es in Berlin schließlich eigentlich keine Kneipe, die sich für die EM nicht mindestens einen extra Fernseher zugelegt hatte.
Am Telefon der meisten Bars in meiner Umgebung schlägt mir aber erstmal großes Schweigen entgegen. "Ach, ist gerade EM?", fragt einer der Mitarbeitenden mich am Tag des Eröffnungsspiels ungläubig. Ich bejahe und betone, dass das jetzt vier Wochen so geht.
Mit einem Seufzer fragt er nach dem Kanal. Ja, würde sicher gehen, Hauptsache man muss jetzt für den Kram nicht noch ein Abo abschließen. Dabei werden tatsächlich alle Spiele der Europameisterschaft 2025 von ARD und ZDF übertragen. Heißt, jede Bar mit einem Fernseher könnte die Spiele zeigen – und zwar komplett kostenlos.
Eine kurze Google-Recherche spuckt mir gerade einmal zehn Orte in Berlin aus, an denen die EM offiziell gezeigt wird. Darunter sind einerseits klassische Fußballkneipen, die im Zweifel nun mal wirklich alles von La Liga bis zur dritten Bundesliga zeigen. Außerdem wirbt noch eine Schweizer Fonduehütte (Patriotismus, I guess?) und ein Fußballverein (well) mit der EM.
Immerhin ein Biergarten bietet in Zusammenarbeit mit dem Fußballmagazin "11 Freunde" jeden Tag Public Viewing.
In Hamburg hingegen finde ich nicht mehr als fünf Kneipen, die mit einem EM-Stream werben. Eine Recherche zu einigen kleineren deutschen Städten ergibt lediglich Ergebnisse zur EM 2024 – ja, guten Morgen, Fußballdeutschland.
Einmal mehr dankte ich meinem früheren Ich also für den Umzug nach Berlin – der Stadt, in der alles möglich ist, sogar Fußball von und mit Frauen! Für das erste Gruppenspiel der Deutschen entschied ich mich siegessicher für die bekannte Fußballkneipe Tante Käthe.
Platzangst bekam man hier allerdings an diesem Abend nicht. Einige Bierbänke vor der Bar sind belegt, nicht alle Anwesenden schauen in Richtung der Fernseher. Vor der großen Leinwand im Innenraum bleiben auch nach Anpfiff viele Stühle leer.
Das ändert sich erst, als das Halbfinale der Klub-WM läuft. Plötzlich füllt sich die Bar, es wird umgeschaltet. Mit einem Schulterzucken lässt man uns zumindest draußen das nächste EM-Gruppenspiel des Abends schauen.
Wenige Tage später wird es in einer anderen Bar noch schlimmer. Vor einem Jahr konnte man hier jedes EM-Spiel auf insgesamt fünf Bildschirmen schauen. Beim dritten Gruppenspiel der DFB-Frauen dürfen wir hier nur ohne Ton schauen und bekommen aufgrund der ungünstigen Platzierung eine dezente Nackenstarre.
Mit dem Beginn der K.-o.-Runde scheinen dann aber doch immer mehr Menschen mitbekommen zu haben, dass hier gerade irgendein Turnier läuft. Bei weiteren Anrufen für die Viertelfinals versichert sich so mancher Mitarbeiter dann zwar auch nochmal, dass er wirklich nur ZDF einschalten muss.
Immerhin bestätigen mir aber alle Kneipen, die ich erreiche, dass ich bei ihnen die Spiele schauen könnte. "Dürfte ja heute kein anderes Spiel parallel laufen", schiebt einer von ihnen noch hinterher.
Tatsächlich sind jetzt auch die Kneipen voll – oder sagen wir, voller. Als beim Spiel England gegen Schweden die Nationalhymne ertönt, entdecke ich sogar einen Fan im Manchester-City-Trikot, der inbrünstig mitsingt.
"Ich habe alle Spiele gesehen", verrät er mir. "Wir gucken aber halt auch wirklich alles, was mit Fußball zu tun hat", fügt sein Kumpel hinzu.
Dass die Klub-WM in der Vorwoche mehr Aufmerksamkeit bekommen hat, können die beiden jedenfalls nicht verstehen. Plötzlich höre ich viel Lob über die EM, sogar Geschichten über eigene Stadionerfahrungen beim Fußball der Frauen.
"Frauenfußball ist einfach ehrlicher", sagt einer der Männer und bekommt zustimmendes Nicken von seinen Kumpels. Einer von ihnen lässt dann allerdings durchscheinen, was wohl viele männliche Fans denken: "Das ist immer super, weil Frauenturniere laufen, wenn alles andere Sommerpause hat."
Tatsächlich bleibt ein Teil der Gruppe an diesem Abend aber bis zum Elfmeterschießen. Auch ein Pärchen sitzt am Rande der Leinwand und verfolgt gebannt das Ausscheiden der Schwedinnen. "Wir wären nicht hergekommen, wenn hier nicht die EM laufen würde", sagen sie.
Plötzlich scheint der Hype wieder präsent, den ich bei den DFB-Frauen für so selbstverständlich gehalten hatte. Tatsächlich lassen auch die TV-Quoten auf eine rege Begeisterung der Deutschen für die EM schließen.
Laut "DWDL" sahen durchschnittlich 3,55 Millionen Menschen das letzte Gruppenspiel der Deutschen. Das parallel laufende Klub-WM-Finale kam in der ersten Hälfte auf 1,72 Millionen, in der zweiten auf 1,38 Millionen Zuschauende.
Für die Kneipen und Biergärten in diesem Land wäre es also ein durchaus lukratives Geschäft, den Fernseher von der letzten EM nochmal aus dem Schrank zu holen. Schließlich trinken Fußballfans nur allzu gerne Bier – noch mehr sogar, wenn die K.-o.-Spiele knappe drei Stunden dauern.
Mit dem Ende der Klub-WM steht nun ja tatsächlich kein anderes Turnier mehr im Wege. Also liebe Gastronom:innen: Traut euch am Wochenende, den Fernseher (und bitte auch den Ton!) anzuschalten. Denn die EM hat so viel mehr zu bieten als die großen Augen von Giulia Gwinn.