Jobs in Pflege- und Sozialarbeit sind schlecht bezahlt. Die Pflegearbeit zu Hause machen hauptsächlich die weiblichen Familienmitglieder, meist ist die Folge davon, dass sie nicht Vollzeit arbeiten können und im Alter ärmer sind als Männer.
Aber wie sind wir überhaupt in dieses System gerutscht? Warum haben soziale Berufe in unserer Gesellschaft einen so schlechten wirtschaftlichen Stellenwert?
Darüber hat watson mit Emma Holten gesprochen. Sie hat sich dieser Fragen in ihrem Buch "Unter Wert" angenommen und festgestellt: So wie unsere Gesellschaft Wert bemisst, kommen wir nicht weiter.
Emma ist Mitglied des Sachverständigenforums des Europäischen Instituts für Gleichstellungsfragen und des Beratungsausschusses für Frauenrechte von Human Rights Watch, seit 2023 berät sie die dänische Regierung.
watson: In deinem Buch geht es um feministische Ökonomie – ein Begriff, der nicht in jedem BWL-Unterricht fällt. Was genau ist das?
Emma Holten: Die Geschichte der feministischen Ökonomie beginnt in den 60er Jahren. Damals kamen immer mehr Ökonominnen an die Universitäten Europas und der USA. Sie bemerkten, dass die Ökonomie eine große Achillesferse hatte, wenn es um die Bereiche der Wirtschaft ging, in denen Frauen überrepräsentiert waren, vor allem in der häuslichen Pflegearbeit.
Häusliche Pflegearbeit war das ursprüngliche Thema der feministischen Ökonominnen?
Ja, denn sie war unbezahlt, wurde hauptsächlich von Frauen geleistet und in den meisten Wirtschaftswissenschaften einfach ignoriert. Niemand hat darüber gesprochen. Die Rolle dieser Arbeit hat sich zu einer Art Betreuungsarbeit für die Wirtschaft entwickelt. In meinem Buch komme ich zu dem Schluss, dass die Wirtschaftswissenschaften dieses Problem noch immer nicht gelöst haben. Der Wert von Care-Arbeit für die Wirtschaft, aber auch in Bezug auf die Lebenszufriedenheit ist immer noch nicht in der gleichen Weise theoretisch entwickelt wie eine Fabrik oder ein Auto.
Um beim Geschichtlichen zu bleiben: Du ziehst einen Zusammenhang zwischen Wirtschaftstheorie und Hexenverbrennung im 16. Jahrhundert. Kannst du den erklären?
Die Geschichte der Hexenjagd ist interessant, da sie sehr viel mit der Kontrolle der Bevölkerung zu tun hatte. Viele der Menschen, die als Hexen gejagt wurden, wichen von der Norm ab. Weil sie außereheliche Kinder hatten, homosexuell waren oder ein freies Leben führten. Dadurch waren sie kein kontrollierbarer Teil der Wirtschaft. Die Art von Wirtschaft, die die Menschen an der Spitze der Gesellschaft wollen, erfordert aber die Disziplinierung der Menschen. Ich denke, dass die heutige Wirtschaft auch eine Art von Disziplinierung ist. Warum schlafen wir so, wie wir schlafen? Warum bekommen wir Kinder so, wie wir Kinder bekommen? Vorstellungen darüber, was gute Wirtschaft ist, steuern das Verhalten der Menschen – und geben vor, welche Art zu leben die richtige und wertvolle ist.
Selbst als kleines Kind wird man ja ständig gefragt, was man werden will – unser Sein ist auf wirtschaftliche Teilhabe ausgelegt.
Ja, das ist die ganze Identität. Ein weiteres Beispiel sind Frauen, die keine Kinder haben. Wir sprechen ziemlich gewaltvoll über solche Frauen. Wir machen sie lächerlich, sagen, dass sie keine richtigen Frauen sind. Ich denke, das zeigt, dass es einen großen kulturellen Druck gibt, Frauen zur Fortpflanzung zu zwingen. Die Wirtschaft als disziplinierender Faktor wirkt sich auch auf Männer aus. Sie sollen ihre Männlichkeit auf eine bestimmte Art und Weise ausüben, die Familie versorgen, viel arbeiten. Das schadet Männern meiner Meinung nach auch.
Ein klassischer feministischer Take: Das Persönliche ist politisch.
Ich glaube, das ist immer noch so. In Deutschland sinkt das Einkommen von Frauen, sobald sie Kinder haben, um 60 Prozent. Das ist der größte Rückgang in ganz Europa. Das beeinflusst das Leben von Frauen wirklich stark, und ich denke, Menschen aller Geschlechter in Deutschland haben das Recht zu fragen: Ist das fair? Frauen erbringen eine zentrale Leistung für die Gesellschaft und dann leidet ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit.
In deinem Buch bezeichnest du Diskriminierungen in der Ökonomie als "Marktfehler". Was ist damit gemeint?
In der Wirtschaft gibt es die Theorie des Marktgleichgewichts, in dem jeder genau so viel bekommt, wie er verdienen sollte. Das ist der Idealzustand der Wirtschaft. Doch dann trifft diese Theorie auf die Realität – etwa wenn Menschen weniger verdienen, nur weil sie ein bestimmtes Geschlecht oder eine bestimmte Hautfarbe haben. In der Wirtschaft spricht man in solchen Fällen von einem Marktfehler. Aber Diskriminierung ist kein Ausnahmefall oder Fehler – sie war immer Teil der Wirtschaft und oft sogar sehr profitabel. Für mich wird Bezahlung auch durch Macht, Geschichte, Tradition und Kultur beeinflusst. Der Markt ist kein mechanisches System, sondern ein soziales. Wir können Preise nicht verwenden, um den wahren Wert zu verstehen.
Wie machen wir diese Diskriminierungen in Politik und Ökonomie sichtbar?
Wenn wir über Politik sprechen, reden wir fast nur über Geld. Das sieht man an den deutschen Debatten über Kriegsinvestitionen sehr deutlich. Die Schwarze Null wird übergangen, um Fabriken zu bauen – aber nicht, um in Schulen oder Klimaschutz zu investieren. Das liegt daran, weil wir glauben, dass Geld für Fabriken auszugeben, messbaren Wert schafft, während Investitionen in soziale Bereiche das nicht tut. Das zeigt den Kern des Problems: Wie soll man Fabriken füllen, wenn die Menschen nicht gesund sind, wenn sie nicht gut ausgebildet sind? Solange nur Dinge, die wir bepreisen können, einen Wert haben und Dinge, die schwer zu bepreisen sind, keinen Wert haben, stecken wir in einem System fest, in dem wir niemals in Pflege oder Freizeit investieren werden.
Wie kann sich das ändern?
Ich denke, sobald wir anfangen, andere Arten von Wissenschaften zu nutzen, werden wir die Armut sehen, die wir schaffen, wenn wir nur zu verkaufende Produkte als Wert betrachten und die menschlichen Investitionen nicht. Das ist ja auch in Deutschland der Fall und ich glaube, dass Deutschland darunter leiden wird. Das Land befindet sich in einer industriellen Krise, aber auch in einer Pflege- und Sozialkrise, in einer Krise der Familien, des sozialen Zusammenhalts, des Auseinanderbrechens von Gemeinschaften. Und das kann man nicht mit Waffen lösen – wir müssen in Menschen und Beziehungen investieren.
Du schreibst in deinem Buch auch, dass wir immer reicher an Gegenständen und immer ärmer an nicht messbaren Dingen werden.
Es gibt die Vorstellung, dass Bedürfnisse auf dem Markt befriedigt werden. Wenn man ein Bedürfnis hat, kauft man es einfach auf dem Markt. Aber es gibt vieles, was der Markt nicht zu bieten hat. Man kann sich nicht einfach Ruhe, eine lebenswerte Stadt, gute medizinische Versorgung auf dem Markt kaufen. Ich glaube, dass in der Wirtschaft und in der Politik die Bedeutung dieser sozialen Güter stark unterschätzt wird. Eine neue Küche fühlt sich nicht so schön an, wenn das Kind in eine Schule geht, die auseinanderfällt.