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Tiktok-Lehrer Herr Schmelzer über Haftbefehl, Bildungssystem und KI

Bilder im Querformat gibt es von Herrn Schmelzer logischerweise kaum.
Bilder im Querformat gibt es von Herrn Schmelzer logischerweise kaum.Bild: privat
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Tiktok-Lehrer Herr Schmelzer: "Klassische Hausaufgaben kann man vergessen"

Nicolas Schmelzer ist Lehrer, Influencer und Bildungsaktivist wider Willen. Ein Gespräch über Haltung, Humor und Haftbefehl im Unterricht.
06.08.2025, 19:5506.08.2025, 19:55
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Auf Tiktok verfolgen rund 140.000 Menschen, wie "Herr Schmelzer" zu Ikkimel tanzt, als Luigi zur Mottowoche kommt und nebenbei erklärt, warum Noten überholt sind und Bundesjugendspiele abgeschafft gehören. Nicolas Schmelzer, wie er bürgerlich heißt, ist Lehrer an einer Wiesbadener Gesamtschule und sagt über sich selbst, er nutze Tiktok tagsüber nicht, "aus Suchtgründen".

Zum Videogespräch trägt er ein weißes T-Shirt des Haushaltsreinigers Frosch mit der Aufschrift "Frech" und eine Körperhaltung, bei der Lehrer seiner Vorvorgängergeneration mit Kreide geworfen hätten.

watson: Nico, was kann man mit Haftbefehl besser lernen als mit Georg Büchner?

Nicolas Schmelzer: Man kann mit Haftbefehl niedrigschwellig Themen der Soziologie lyrisch aufarbeiten. Wenn man "069" hört und in der Nähe von Frankfurt wohnt, kann man mit Lines wie: "Die Banken kratzen an den Wolken, ich mich am Yarak, wie komm' ich an Euros?" gut darstellen, worum es hier eigentlich geht: Ungleichheit.

Was hat mehr Einfluss auf ein Leben: ein guter oder ein schlechter Lehrer?

Mein damaliger Politik-Leistungskurslehrer war mit Grund dafür, dass ich das Fach später selbst studiert habe. Der war offen und motiviert. Wenn wir ihn gefragt haben, ob er zur Abi-Finanzierungsparty kommt, war er da. Und auch sonst war er erreichbar, wenn es irgendwo hakte. Gleichzeitig hat er es geschafft, Inhalte gut zu vermitteln, das fand ich sehr inspirierend.

Was macht eine gute Lehrkraft aus?

Geduld und Empathie. Und handliche Expertise, wie man Unterricht aufbaut. Unterricht sollte etwas vermitteln, gleichzeitig Spaß machen und ein Safe Space mit einer Fehlerkultur sein.

Wie viel Freiraum hast du, um Inhalte im Unterricht selbst zu gestalten?

Es schwankt. Für Deutsch stand im letzten Jahr Charakterisierung auf dem Lehrplan, ohne dass bestimmt worden ist, womit der Inhalt vermittelt werden soll. Deshalb konnte ich mir mit meiner Klasse aussuchen, was wir lesen: Naruto. In der Oberstufe ist das anders, da gibt es das Zentralabitur. Es ist also schon sinnvoll, dass das einheitlich ist.

Was ist das größte Missverständnis, das Erwachsene über Jugendliche haben?

Dass alles immer schlimmer wird. Oder: Die Jugend von heute.

Hattest du nie Vorurteile?

Das klingt jetzt vielleicht überheblich, aber ich war da relativ frei von. Vielleicht auch weil man gerade zwei Jahre aus der Schule raus ist, wenn man anfängt zu studieren. Wenn ich Klassen übernommen habe, die im Kollegium als schwierig galten, hatte ich schon ein bisschen Sorge. Aber dann geht es eigentlich doch, wenn man auf die Schüler:innen eingeht und zuhört.

Haben wir als Gesellschaft zu hohe oder zu niedrige Erwartungen an Lehrer:innen?

Im Bildungsauftrag des Staates steht, dass jedem Individuum in unserem Schulsystem das bestmögliche Lernen ermöglicht werden muss. Das ist ein Ideal und wenn man das auf individuelle Schultern ablädt, kann das nicht erfüllt werden. Gleichzeitig liegt die Verantwortung oft nur bei den Lehrer:innen, obwohl das System dafür gar nicht die nötigen Rahmenbedingungen schafft. Man will nicht investieren, nicht nachhaltig reformieren – erwartet aber, dass Lehrkräfte trotzdem alles irgendwie möglich machen. Das passt einfach nicht zusammen.

In deinen Videos nimmst du auch zu politischen Themen Stellung. Wie politisch darf man als Lehrer sein?

Parteipolitische Werbung ist im Unterricht tabu, da orientiert man sich am Beutelsbacher Konsens. In meinen Videos dürfte ich das natürlich trotzdem, viele Lehrkräfte sind Parteimitglieder oder sitzen sogar in Landtag oder Bundestag. Ein Thema, das gesellschaftlich kontrovers diskutiert wird, muss auch im Unterricht multiperspektivisch dargestellt werden. Und wenn man als Lehrkraft die persönliche Meinung nennen möchte, muss man die deutlich kenntlich machen.

Würdest du deinen Content auch als Aufklärungsarbeit bezeichnen?

Es ist ja wirklich nicht so, als sei mein Account ein zutiefst seriöses Konstrukt, bei dem es jeden Tag um ein strukturelles Problem geht. Da habe ich auch gar keine Lust zu, ich will nicht der zweite Netzlehrer sein. Deswegen würde ich mir auf gar keinen Fall das Label "Aufklärungsarbeit" geben. Das sieht man auch an den Zahlen: Was fanden die Leute diese Woche am lustigsten? Wie ich auf dem Kendrick-Lamar-Konzert bin und einen Joke darüber mache, dass ich da war, anstatt Klassenarbeiten zu korrigieren.

Du lässt deine Klasse über deine Haarfarbe und Tattoos abstimmen. Muss man als Lehrer so etwas wie der "coole Onkel" sein?

Nein, man muss sich in seiner Rolle wohlfühlen. Ich mache das nicht, um mich anzubiedern, sondern weil ich mit meiner Klasse ein sicheres Verhältnis habe. Wenn man sich mit einem distanzierteren Verhältnis wohler fühlt, sollte man das machen. Man scheitert, wenn man auf "Hey Fellow Kids" macht. Vor allem an sich selbst.

Wie macht man guten Unterricht für unter Umständen 30 verschiedene Lernmuster?

Es ist in der Realität aktuell nicht möglich, für 30 Schüler:innen individuell zu differenzieren, vielleicht irgendwann mal mit KI. Was aber gut funktioniert, sind drei bis vier Niveaustufen, je nach Lerngruppe. Wichtig ist generell, dass die Inhalte einen Bezug zur Lebenswelt haben. Wenn wir im Politikunterricht über Gerechtigkeit sprechen, kann ich ein Beispiel von Cristiano Ronaldo nehmen, der 20.000 Euro Trinkgeld gibt und meint, es soll gerecht für alle verteilt werden, und wir diskutieren, wer es warum verdient hätte.

Was muss sich am Unterricht ändern, wenn KI-Tools wie ChatGPT zum Schulalltag gehören?

Klassische Hausaufgaben kann man vergessen – ChatGPT kann fast alles. Und es braucht einen flipped classroom: Der Schreib- und Denkprozess muss stärker in die Schule verlagert werden. Und: neue Prüfungskulturen. Schriftliche Aufgaben müssen mündlich ergänzt werden, damit klar ist, dass sich jemand wirklich mit dem Thema auseinandergesetzt hat.

Wenn du eine Sache am Lehrplan ändern könntest – was wäre das?

Ich würde Inhalte reduzieren und mehr Zeit für vertieftes Arbeiten schaffen. Fehlerkultur kommt oft zu kurz, obwohl das im Erwachsenenleben extrem wichtig ist. Man könnte einen Aufsatz schreiben lassen, ihn als Klassenarbeit bewerten und die nächsten Wochen daran arbeiten, den zu verbessern.

Von Schule wird auch immer mehr Lebensnähe gefordert: Steuererklärung, Mietvertrag, Excel-Tabellen.

Kompetenzorientierung zielt ja genau darauf: Wenn man versteht, was ein komplexer Text meint, kommt man auch später mit einem Mietvertrag klar. Und wenn ich verdichtete Lyrik verstehe, verstehe ich auch, wenn ein Politiker sehr bildhaft Dinge umschreibt. Je lebensnäher Unterricht ist, desto besser. Viele verstehen aber nicht, was mit Kompetenz gemeint ist. Eine Steuererklärung in Klasse zehn bringt wenig, bis man sie braucht, hat man das eh vergessen. Ich hab meinem LK mal eine mitgebracht. Kam nicht so gut an. Wer hätte das gedacht.

Wie schafft man es, dass die eigenen Schüler nicht zu Andrew Tates werden?

Schule hat eine Sozialisierungsfunktion, auch wenn das nicht explizit im Lehrplan steht. Wenn in einem Planspiel geschult wird, wie man Perspektiven von anderen übernimmt, ist die Idee, dass man Empathie verstärkt und soziale Kompetenz aufbaut. Andrew Tate ist ein Internet-Phänomen, da ist Medienkompetenz zentral: Fake News erkennen, Aussagen hinterfragen. Es ist aber sauschwer, das noch "nebenbei" zu machen. Dafür braucht es Zeit und oft auch Fortbildung für Lehrkräfte. Eigentlich muss man das auch gesamtgesellschaftlich betrachten.

Was würdest du deinem 16-jährigen Ich sagen, aber deinen heutigen Schüler:innen nicht?

Spiel weniger "World of Warcraft".

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