Flaschendrehen mit Orgie: Intime Einblicke in eine sexpositive Party in Berlin
Ein Sitzkreis mit halbnackten Menschen, in transparenten Babydolls, Gürtel und Geschirr, Unterwäsche. Die Sonne scheint durch die Fenster, als sie nach und nach erzählen: "Ich stehe nicht auf Füße", "Ich will heute am Kopf angefasst werden", "Wer mag Fesseln?" und dann gemeinsam intim werden.
Diese Szenen zeigt der Dokumentarfilm "Truth or Dare". Ein Film über die sexpositive Community in Berlin, der zwar immer nah dran, aber nie voyeuristisch wirkt und am 13. November in deutsche (Programm-)Kinos kommt.
Im Vorfeld schauten wir ihn für watson an und sprachen mit Regisseurin Maja Classen über Konsens, Berlin und echte Intimität.
Handlung: Worum es im Kinofilm "Truth or Dare" geht
Die Doku, die auf mehreren Festivals erfolgreich lief, zeigt Menschen in Berlin, die Teil der sexpositiven Szene sind. Hier begegnen sie sich weit weg von den engstirnigen und zuweilen missbräuchlichen Elternhäusern ihrer Vergangenheit.
Regisseurin Maja Classen hatte für den Film ein erotisches Zusammentreffen organisiert, welches sie dann begleitete, wie sie erzählt: "Wir luden Protagonist:innen ein, mit denen ich schon lange Interviews geführt, oder Paarbegegnungen gedreht hatte. Sie durften noch eine Person mitbringen, die sie begehren."
Alle Teilnehmenden stellten sich im Anschluss einander vor, und erklärten der Runde ihre erotischen Vorlieben, Grenzen und Eigenarten. So wie Lo-Fi Cherry, die erklärt:
Ebensolche Unterhaltungen im Film sind ein Paradebeispiel für gelungene Kommunikation über Lust, Konsens und Bedürfnisse. Gespräche, die vielen Paaren, besonders in heteronormativen Beziehungen, oft schwerfallen, weil sie sich nie darin geübt haben. Wie einfach es sein kann, sexuelle Bedürfnisse zu kommunizieren, verblüfft.
Das bemerkte auch Mad Kate, selbst Teil der Gruppe: "Es ist schön, diese Gespräche über Einvernehmen und Grenzen zu sehen. Die Sprache rund um das Thema Begehren wird außerdem immer fluider. Ich glaube, die Menschen fühlen sich wohler, darüber zu sprechen."
Konsens und Aftercare: Der sensible Umgang mit Sexualität
Beim Flaschendrehen lernt die Gruppe sich durch erotisches Spielen näher kennen. Das Spiel heißt "Truth or Dare" (entspricht "Wahrheit oder Pflicht"). Eigentlich ist es aber sowohl "Truth" als auch "Dare", was Zuschauer:innen hier zu sehen bekommen.
Die Kamera ist dabei, wenn die Protagonist:innen sich paarweise und als Gruppe beim Sex erforschen. Dies ist definitiv ein FSK-18-Film – schmuddelig wird es aber nie. Selbst als das polyamore Paar Kate und Adrienne bei ihrer Trennung in Abschiedssex versinkt, samt Analstimulation und Kopfgeschirr-Dildo, wirkt das bittersüß, nie komisch.
Es geht um Körper und Berührung, aber auch um Unsicherheiten, Zuneigung, Begehren, Angst. Es rührt, wenn "Jorge the Obsene" mit seiner breiten Brust und dem Rauschebart dem Pornodarsteller Bishop gesteht, dass er sich "ein bisschen schüchtern" fühle, bevor sie miteinander schlafen. Es ist auch schön zu sehen, wie auf Peitschenhiebe und BDSM eine Aftercare in Form einer langen Umarmung folgt. Kleine Details, große Nähe.
Achtsamkeit, Respekt und Transparenz (auch in Bezug auf sexuell übertragbare Krankheiten) sind in der Gruppe entscheidend, obwohl oder gerade weil alle konventionellen Regeln zu Sex über Bord geworfen werden.
Die Menschen, die Maja Classen begleitet, erzählen zum Teil im Off, aus welch restriktiven Verhältnissen sie kamen. Viele von ihnen fanden erst in der Berliner Community die Akzeptanz und Lebenslust, die ihnen im Elternhaus aufgrund ihrer Identität oder sexuellen Präferenz verweigert worden war.
Gruppenlust statt Gangbang zeigt, wie nahe sich Fremde sein können
"Ich denke, dass Berlin schon immer ein Ort mit vielen Subkulturen war, an dem mehr und offener experimentiert wurde als in anderen Städten", sagt Maja im watson-Gespräch über Berlin als Spielplatz, auf dem genderfluide, polyamore und queere Erotik stattfindet.
Auch wenn der Film nur eine kleine Bubble zeigt, sind die Erkenntnisse über Lust und Nähe universal. "Wir können alle davon lernen, wie viel mehr wir uns fallen lassen können, wenn wir uns sicher fühlen", bemerkt auch Maja Classen. "Dass die Sicherheit durch ein gutes Vorgespräch entstehen kann, wenn wir uns trauen, zu sagen, was wir mögen und wo unsere Grenzen sind." Und auch, dass das nicht steif sein muss. "Was vielleicht überraschen mag, ist, wie sexy und verspielt, Konsens-Talk in das Vorspiel eingebaut werden kann", findet die Regisseurin.
Ihr Film ist vielleicht nichts für den Adventskinoabend mit der Familie, aber etwas für alle Menschen, die Lust an der Lust haben oder einen Einblick in Lebenswelten gewinnen wollen, die abseits von Mainstream-Liebesgeschichten agieren.
Zuletzt sehen wir die Gruppe beim gemeinsamen Sex, alle Körper ineinander verschlungen, beim Streicheln, Saugen und Masturbieren. Es sieht aus wie ein einziger, sich sanft bewegender Organismus. Als ob hier etwas Neues entstanden wäre.
