Eigentlich wollte Charlotte Münzig Mediendesign studieren. Aber dann sollte eine Bundesstraße durch ihr Elternhaus in Warendorf gebaut werden – damit Autofahrerinnen und Autofahrer schneller von Münster nach Bielefeld kommen. Und nach und nach dämmerte ihr: Das geht doch so nicht. Was ist mit der Verkehrswende? Mit dem Wald – und vor allem: dem Klima?
Ihr Berufswunsch – vergessen. Ihre Mission fortan – die Erderwärmung begrenzen. Einen Unterschied bewirken. Ihre Leidenschaft fürs Gestalten, fürs kreativ sein, rückt weiter und weiter in den Hintergrund. Für Münzig zählt nur noch eines: die Menschen vor dem Schlimmsten zu bewahren.
Charlotte Münzig, 23 Jahre alt, schulterlange blonde Locken und ein strahlendes Lachen im Gesicht, wohnt in Lüneburg – dem Mekka der Umweltaktivisten. Und genau das ist auch der Grund, weshalb sie dort gelandet ist.
Sie spricht lebhaft und lacht oft beim Reden. Wer ihr zuhört, sie beobachtet, würde nicht ahnen, wie es in ihrem Innern aussieht – leer, ohne viele Emotionen. Häufig ist da einfach nichts.
Stille. Und Resignation.
Denn Münzig leidet unter einer Borderline-Persönlichkeitsstörung, dazu kommen dissoziative Anfälle und Depressionen. Typisch für diese psychische Erkrankung sind heftige Stimmungs- und Gefühlsschwankungen.
Steht sie unter Druck, bleibt die Welt plötzlich stehen – und Münzig ist in ihr gefangen. Sie kann sich nicht bewegen, nicht sprechen, nicht um Hilfe schreien. "Mein Kopf sagt: Steh auf, mach doch einfach! Aber der Impuls kommt nicht an." Sie bleibt sitzen, verharrt weiter. Aber ihre Gedanken rasen.
Mal dauern diese Anfälle zwei Stunden, mal eine und mal geht es schneller vorüber – je nachdem, wie schnell die Menschen um sie herum begreifen, was los ist. Denn um aus der Starre auszubrechen, muss sie ein Ventil finden, Schmerzen spüren – den Kopf an die Wand hauen, bis sie blutet und lauter Beulen hat. Erst dann kann sie wieder auftauchen. Atmen. Frei sein. Erst dann ist nicht länger gefangen in ihrem eigenen Körper.
Rückblick.
Nachdem Münzig im Sommer 2017 ihr Abitur bestanden hat, geht sie nach Costa Rica. Ein Jahr Freiwilligendienst, Thema: Umweltbildung. Dass es in Sachen Klimaschutz an den großen Stellschrauben scheitert, hat Münzig schon in ihrer Schulzeit feststellen müssen.
Damals war ihr gesamter Jahrgang zusammengetrommelt worden, um für den Erdkundeunterricht die Klima-Dokumentation "Eine unbequeme Wahrheit" von Al Gore, dem ehemaligen US-Vizepräsidenten, zu gucken. "Und dann saßen wir wieder in unserer Klasse und plötzlich ging es darum, wie man richtig lüftet und dass Stoßlüften besser ist, als das Fenster die ganze Zeit auf Kipp zu haben."
Münzig ist irritiert: War das deren Ernst? "Wir gucken einen Film und es wird deutlich, dass wir ein riesiges Problem haben – und dann reden wir übers Stoßlüften?" Münzig lacht, noch heute klingt sie ungläubig über diese Dissonanz.
Und das sollte kein Einzelfall bleiben.
Ging es im Erdkundeunterricht um die Erderwärmung und Klimaschutzmaßnahmen, kam die Klasse sofort auf das Wirtschaftswachstum zu sprechen. Das würde schließlich unter den Klimaschutzmaßnahmen leiden. "Es ist einfach so krass, wie tief verankert dieses kapitalistische Denken ist. Da wird ein kurzfristiges Wirtschaftswachstum mit unseren Lebensgrundlagen gleichgesetzt – das macht mich jedes Mal wieder fassungslos", sagt Münzig.
Charlotte Münzig will mehr. Sie will an den großen Stellschrauben drehen. Also geht sie im Herbst 2019 nach Lüneburg, Umweltwissenschaften studieren. "Das Studium ist schon gut, aber so richtig an den Kern der Sache kommt man irgendwie nicht."
Stattdessen geht es in den Seminaren um Bildung für nachhaltige Entwicklung. "Ja, das ist super wichtig, klar. Aber soll das der Ansatz sein, durch den wir das Klima retten?", fragt Münzig. Sie schüttelt den Kopf, atmet laut hörbar aus.
Münzig ist frustriert.
Sie sucht weiter. Und landet im November schließlich bei ihrer ersten Aktion von "Ende Gelände". Endlich fühlt sie sich angekommen: Hier ist sie richtig, hier kann sie etwas bewegen.
Zwar kostet sie die Kapitalismuskritik am Anfang einiges an Überwindung, aber sie weiß: Nur tiefgreifende Kritik am Status Quo kann die nötigen Veränderungen erwirken. Sie will ausbrechen aus der Lüneburger "Schöne Welt-Blase", die in der "bürgerlichen Komfortzone stecken geblieben ist".
"Ende Gelände" wird Münzigs Lebensmittelpunkt.
"Aktivismus rüttelt mehr auf und bewegt mehr, als alles, was ich beruflich machen könnte." Zwar spielt sie immer mal wieder mit dem Gedanken, bei einer NGO anzufangen, "aber ich sehe auch, dass es meine Freunde ganz schön kaputt macht". Die Folge dort meist: Burnout.
Doch das Thema Klima kommt für Münzig an erster Stelle. Immer, noch vor sich selbst. Sie tut Dinge, weil sie sinnvoll sind und nicht, weil sie Spaß daran hat. "Ich kann doch jetzt nicht einfach etwas tun, weil es mir Spaß bringt, während die Welt gerade auseinanderfällt", sagt sie. Ihre Schultern sacken nach vorn. Für einen kurzen Moment schließt sie die Augen. "Der Aktivismus ist das einzige, das mir hilft, klarzukommen. Zumindest tue ich was."
Aber die Welt bricht auseinander.
Bei einer Aktion von "Ende Gelände" im Dannenröder Forst bekommt Münzig das am eigenen Leib zu spüren. Wochenlang hat sie sich mit den anderen Aktivistinnen und Aktivisten auf die Besetzung des Waldes vorbereitet – und auch darauf, was passieren könnte, sollten sie von der Polizei in Gewahrsam genommen werden. Ihre Fingerkuppen hat sie präpariert – für den Fall der Fälle, dass die Polizei Fingerabdrücke nehmen will.
Es kommt, wie es kommen musste.
Es ist vier Uhr in der Früh, als Münzig gemeinsam mit einer Freundin und einigen Bekannten in eine Baumkrone tief im "Danni" klettert. Aus Nacht wird Tag – und die Polizisten kommen. Sie wollen den Wald räumen, die Aktivisten aus den Bäumen holen. Es ist eine schwarze Front: Polizisten gegen die Aktivisten.
Münzig wehrt sich.
Aufgeben kommt für sie nicht in Frage.
Sie will nicht mit aufs Revier. Auf gar keinen Fall.
Aber keine Chance – es sind drei Polizisten gegen sie.
David gegen Goliath.
Sie wird von ihren Freunden getrennt, landet auf einem Polizeirevier in Frankfurt. Sie schrubben ihre Fingerkuppen mit Lösungsmitteln, nehmen ihre Fingerabdrücke, machen Fotos von ihr. Dann landet Münzig in einer Zelle.
Sie ist allein. Um sich herum: Stille. "Du weißt nicht, wie spät es ist. Du weißt nicht, wann du da wieder rauskommst." Panik breitet sich in ihrer Brust aus. Dabei hatte sie sich doch auf genau solche Situationen vorbereitet. "Ich hätte vorher nicht gedacht, dass mich das so fertigmacht."
Nach einigen Stunden wird Münzig wieder in die Freiheit entlassen.
Es wird Sommer, Herbst. Die Coronazahlen steigen. Die Pandemie verdrängt die Klimakrise vom Radar der Menschen. Auch der Aktivismus leidet unter den hohen Infektionszahlen, Treffen finden nur noch digital statt. Für Münzig bricht ein wichtiger Anker weg. Sie steht unter Druck: Uni, Aktivismus, Klausuren. Sie hat keine Kraft mehr, ihr Körper läuft auf Autopilot.
Dann plötzlich kommt die Quittung: Ende.
Münzig ist müde, so unfassbar müde. Acht Wochen lang liegt sie im Bett, isst kaum noch. "Ich hatte keine Energie für nichts. Ich habe einfach nur noch versucht, zu überleben." Die Zeit zieht sich. Und mit jedem Tag geht es Münzig schlechter.
Sie hat "fettes Glück", bekommt einen Therapieplatz. Doch zwei Stunden vor dem Erstgespräch passiert es plötzlich – für Münzig bleibt die Welt stehen. Es ist das erste Mal, dass sie zur Gefangenen in ihrem eigenen Körper wird. Es ist ihr erster dissoziativer Anfall, aber das weiß sie damals noch nicht.
Münzig will aufstehen, Zähne putzen, duschen, den Zug zur Therapeutin nehmen. Aber ihr Körper reagiert nicht. Sie sitzt einfach nur da. "Ich wusste, ich muss aufstehen, aber ich konnte nicht." Sie verpasst den Termin, rutscht immer weiter in eine Abwärtsspirale.
Wenig später landet sie in einer psychiatrischen Klinik.
Cut.
Der Aufenthalt fühlt sich für Münzig an, wie eine Verschnaufpause von ihrem Leben. Mit jedem Tag, jeder Woche geht es ihr ein bisschen besser. Sechs Wochen später, Anfang Dezember 2021, darf sie zurück nach Hause. Münzig ist überglücklich.
Und fällt in ein tiefes Loch.
Plötzlich ist alles noch schlimmer. Die Suizidgedanken kommen wieder. Das Leben ermüdet sie. Als sie ihrem Freund davon erzählt, bekommt der Panik. Er stellt sie vor die Wahl: Entweder sie fahren gemeinsam in die Klinik, oder er ruft einen Krankenwagen. Münzig will nicht, sie geht in ihr Zimmer, schließt die Tür ab, will einfach nur schlafen, ihre Ruhe haben.
Aus Angst, sie könne sich etwas antun, ruft ihr Freund den Krankenwagen.
Weil Münzig ansprechbar ist und die Situation nicht akut zu sein scheint, fahren die Rettungssanitäter wieder. Allerdings nicht, ohne zuvor die Polizei zu informieren.
Und die Polizei kommt, will sich versichern, dass mit Münzig alles in Ordnung ist.
Flashback.
Ihre Gedanken rasen. Die Polizei, hier, bei ihr Zuhause. In ihren Ohren rauscht es. Vielleicht erkennen sie sie ja wieder. Ein Blick in ihr Zimmer genügt, um zu wissen, dass sie bei "Ende Gelände" aktiv ist. Poster und Mobi-Materialien liegen überall herum. Panik breitet sich in Münzigs Brust aus. Sie will auf gar keinen Fall, dass die Polizisten in ihr Zimmer kommen. Auf gar keinen Fall will sie wieder in eine Zelle gesteckt werden. Sie bleibt auf ihrem Bett sitzen, öffnet ihre Zimmertür nicht.
Es knallt.
Holz splittert.
Die Polizisten haben ihre Zimmertür eingetreten, stehen in ihrem Zimmer. Münzig stockt der Atem. Ihre Gedanken rasen. Die Polizisten kommen auf sie zu, nehmen sie am Handgelenk. Münzig brennt eine Sicherung durch. Sie schreit, schlägt und tritt um sich. Panik.
Aber auch dieses Mal hat sie keine Chance. Die Polizisten sind stärker.
David gegen Goliath. Schon wieder.
Sie landet in der psychiatrischen Klinik. Weil sie schreit, schlägt und tritt, bringt man sie in das Isolationszimmer.
Flashback.
Das Zimmer – es ist genauso still wie die Zelle auf der Frankfurter Polizeiwache. Es ist genauso leer: Bett, Fixierungsgurte, ein Fenster mit schmalen Lüftungsschlitzen, sodass man weder rein- noch rausschauen kann. Münzigs Gedanken überschlagen sich. Ihr Herz pocht schneller und schneller.
Sie will hier raus, einfach nur weg.
Stattdessen wird sie fixiert – an Bauch, Armen und Beinen. Münzig schreit. Sie wird sediert, ihre Gedanken driften ab. Alles verschwimmt vor ihren Augen. Ihr Atem flacht ab.
Wie viele Stunden genau sie in dem Isolationszimmer fixiert war, weiß sie nicht. Münzig weiß nur: Es fühlt sich an, als würde die Welt stehen bleiben, aufhören sich zu drehen.
Sie ist zurück auf Station B.34.
Geschlossene Psychiatrie.
Münzig lebt Tag für Tag.
Wie lange sie in der Klinik bleiben muss, weiß sie nicht. Darüber entscheidet eine Richterin.
Es ist der immer gleiche Tagesablauf: Aufstehen, Spaziergang mit der gesamten Gruppe, Frühstück. Dann Ergotherapie, Mittagessen, Sport, Entspannung und Körperwahrnehmung, Therapie, Abendessen. Noch einmal.
Aber Münzig hat keine Kraft, versucht einfach zu überleben. Den Spaziergang am Morgen lässt sie ausfallen, die meisten Therapie-Angebote und den Sport auch. Es geht einfach nicht, nicht jetzt gerade. Auf ihren Schultern spürt sie das Gewicht dieser Welt mit all ihren Ungerechtigkeiten. "Ich fühle, wie mich das kaputt macht", sagt sie. Sie blickt auf den Boden. Für einen Moment ist sie still. "Das ist einfach ein Gefühl der Machtlosigkeit, als würde man gegen Windmühlen ankämpfen." Sie hält noch einmal inne, spricht dann leise weiter.
"Ich kann es nachvollziehen, wenn sich viele Leute am liebsten die Decke über den Kopf ziehen wollen, weil die ganze Situation so überfordernd und überwältigend ist. Aber das ist keine Option. Nicht für mich."
Obwohl Münzig fast zerbricht, gibt sie nicht auf. Das Klima kommt für sie an erster Stelle, trotz allem. Immer. Auch dann, wenn ihr eigener Körper streikt.
* Der Name der Protagonistin wurde von der Redaktion geändert. Der Autorin ist die Person aber bekannt.