Luisa Müller steht vor ihrem Haus. Regen und Wind peitschen ihr ins Gesicht, sodass sie kaum Luft holen kann. Eine Welle rollt auf ihr Haus zu, türmt sich auf, groß und plötzlich. Sie reißt alles mit sich – Sand, Geröll, Bäume, Autos. Und ihr Haus. Ihr Zuhause. Weg. Mitgerissen von den Hochwasserfluten.
Müller schnappt japsend nach Luft. Nur ein Traum, ein Alptraum. Wieder einmal. Einatmen. Alles ist gut. Ausatmen. Seit das Hochwasser im Ahrtal im Sommer 2021 ganze Häuser und Dörfer mit sich gerissen hat, plagt sie immer und immer wieder der gleiche Traum, wie sie erzählt. Aber auch Waldbrände bahnen sich einen Weg in Müllers Träume. Oder der schier endlos wirkende Tagebau Garzweiler, der einer verlassenen Mondlandschaft ähnelt. Und die Bagger, die das noch übrig gebliebene Dorf Lützerath abreißen sollen. Bis dann nichts mehr übrig ist. Alles weg.
Luisa Müller, 21 Jahre alt, dunkle, kurze Haare, braune Augen und ein schüchternes Lächeln auf den Lippen, wohnt in Ranzel, einer kleinen Gemeinde am Rhein, 40 Bahnminuten entfernt von Bonn. Sie ist Klimagerechtigkeitsaktivistin.
Seit ihr vor zehn Jahren das Buch "Eine unbequeme Wahrheit – Klimawandel geht uns alle an" von Al Gore, dem ehemaligen US-Vizepräsidenten, in die Hände gefallen ist, denkt Müller über die Folgen der Klimakrise nach: Artensterben, verschmutzte Meere, den ansteigenden Meeresspiegel. "Ich habe damals noch gar nicht verstanden, was da eigentlich abgeht", erzählt sie heute. "Aber gerade die Bilder haben mich erschreckt und mich aufgerüttelt. Das war angsteinflößend."
Weil Müllers Mutter schon seit den 80er Jahren in der Friedensbewegung aktiv ist und sie seit jeher auf Demonstrationen und Konferenzen mitgeschleppt hat, sind Gespräche über Politik bei ihnen zu Hause allgegenwärtig. Mit 14 Jahren wird Müller Vegetarierin. Zu sehr sind ihr die "krassen Bilder" von Schweineschlachtungen aus Videos der Tierschutzorganisation "PETA" im Kopf hängen geblieben.
Als Müller 13 Jahre alt und gerade mit ihrer Mutter in der Stadt bummeln ist, wird sie von einer Promoterin von Greenpeace angesprochen. Ob ihr der Umweltschutz am Herzen liege? Ja, keine Frage. "Ich dachte mir nur, oh, wichtig, wichtig, wichtig", sagt Müller. Sie wird also Mitglied, liest die Broschüren und Infomaterialien von Greenpeace. "Die haben sachlich erklärt, was Sache ist und das war mir wichtig." Mit 15 Jahren wird sie Veganerin – verzichtet neben Fisch und Fleisch nun auch auf Milch, Käse, Eier.
"Richtig aktiv bin ich aber erst durch Fridays for Future geworden", sagt Müller. Sie spricht schnell, als wäre sie aufgewühlt und müsste ihre Botschaft loswerden, sofort. Manchmal verschluckt sie dabei einzelne Wörter, setzt noch einmal an, spricht noch ein bisschen schneller. "Wir alle haben doch das Ziel, die Erde zu retten. Denke ich zumindest immer." Sie schüttelt den Kopf, als könne sie nicht begreifen, dass Menschen anders denken könnten.
Als im August 2018 mit Greta Thunbergs Schulstreik vor dem schwedischen Parlament Fridays For Future (FFF) geboren wird, rückt das Thema Klimaschutz auch bei Müller weiter in den Fokus. "In der Schule ist viel darüber geredet worden, da habe ich mich immer mehr mit der Klimakrise auseinandergesetzt." Dabei hat sie festgestellt: Es muss gehandelt werden. Nicht irgendwann, sondern jetzt. In Köln gab es wenig später schon eine Ortsgruppe von Fridays for Future, aber das ist Müller zu weit weg. Gemeinsam mit einigen anderen Jugendlichen gründet sie in Bonn eine eigene Ortsgruppe.
Am 18. Januar 2019 ist es soweit – Müller läuft, gemeinsam mit rund 200 jungen Menschen, ihre erste Fridays for Future-Demo in Bonn mit. "Stoppt die Klimakrise" steht da in roten Lettern auf ihrem Schild. Müller ist aufgeregt. "Es war einfach überwältigend, ereignisreich und schön", sagt sie.
15. März 2019 – erster internationaler Klimastreik. 25. September 2019 – erster globaler Klimastreik. Die Zahl der Demonstrierenden wächst weiter: Erst sind es ein paar Hundert, dann mehrere Zehntausend, schließlich 15.000. "Diese Streiks und wie sich das entwickelt hat, war einfach überwältigend."
Müller organisiert Demos, läuft mit, klärt auf. Und realisiert mit jeder Aktion, mit jedem Streik mehr, wie wichtig schneller und effektiver Klimaschutz ist.
Die Bewegung wächst – und Müller mit ihr. Sie hält Vorträge, gibt Workshops – und läuft gegen Wände. "Frauen und queere Menschen werden stärker von der Klimakrise getroffen", sagt sie. "Das ist eine doppelte Zumutung, auch für mich. Weil ich selbst eine Frau bin und weil ich queer bin." Ihre Hände zittern beim Sprechen. Sie reißt ihre Arme in die Luft, als wollte sie ihre Wut und Machtlosigkeit überspielen. Sie spricht lauter und noch schneller.
"Ich habe schon viel Hass abbekommen", sagt sie. Ihr Instagram-Profil läuft jetzt unter falschem Namen, ihren Account hat sie auf privat gestellt, und auch bei Telegram ist ihr Kontakt für andere nicht mehr einsehbar – weil sie plötzlich von Fremden angerufen und drangsaliert wurde. "Da bin ich einfach vorsichtig geworden. Das hat auch viel mit Selbstschutz zu tun." Ganz schlimm ist es bei Facebook – "da gibt es nur noch Hate, Hate, Hate".
Leicht hatte Müller es in ihrem Leben nie. Als sie drei Jahre alt ist, wird bei ihr eine Sprachstörung diagnostiziert, womit sie als "behindert" eingestuft wird. Sie kommt erst auf die Förderschule, dann auf eine Regelschule, wechselt mehrfach zwischen Regel- und Förderschule, kommt schließlich auf eine Gesamtschule. Als sie 19 Jahre alt ist, wird sie schwer krank, kann nicht mehr zur Schule gehen. Ihr Abi schafft sie nicht. 2020 will sie ein FSJ anfangen, aber auch das klappt nicht. Müller ist verunsichert. Was soll und vor allem was kann sie nur anfangen mit ihrem Leben?
Einige Monate später hat Müller einen Plan: Abitur nachholen, Ausbildung zur Erzieherin machen. Wobei – eigentlich möchte sie auch beruflich mit Bezug auf die Klimakrise arbeiten. Egal, erst einmal anfangen, und sie hat ja immer noch den Aktivismus, sagt sie sich.
Und der ist Müller wichtiger als alles andere.
Acht Stunden Arbeit, vier Stunden Aktivismus. Müllers Welt dreht sich schneller und schneller. Arbeit, Online-Aktivismus, Vorträge, Workshops, Organisation von Demos. Und noch einmal.
Stress pur.
Aber Müller macht weiter, schläft immer weniger. "Ja, Aktivismus ist schon Arbeit, aber eine sinnvolle Arbeit", sagt sie. "Und ich mache das ja nicht nur für die anderen, ich will ja auch selbst in einer klimagerechten Welt leben."
Müller bekommt Kopfschmerzen, Bauchschmerzen, immer häufiger. Sie ist gestresst, hat Angst. Ihr Herz rast. Und dann sind da noch die Alpträume. Die Schlafstörungen. "Ich bin ein emotionaler Mensch, da kommen diese ganzen vielen Emotionen hoch", sagt sie. "Immer, wenn ich mich aufrege oder etwas Neues über die Folgen der Klimakrise erfahre, wird es noch schlimmer."
Sie ist gefangen in einer Abwärtsspirale.
Im August 2020 dann die Diagnose: Burnout. "Ich weiß, dass ich auf mich achten muss, aber das ist so schwierig und die Klimakrise so dringend", sagt Müller. Sie trommelt mit den Fingern auf der Tischkante. Als sie das bemerkt, faltet sie die Hände zusammen, legt sie in den Schoß.
Sie atmet tief ein.
Und wieder aus.
Als wollte sie Abstand gewinnen, die Anspannung wegatmen. "Aber genau das ist das Problem: Ich konnte die ganze Zeit nur denken: Akut, akut, akut. Scheiße, scheiße, scheiße."
Obwohl das Herzrasen zunimmt, die Hände zittern und die Gedanken rasen, macht sie weiter. "Ich wollte es unbedingt hinbekommen." Denn noch ist das 1,5 Grad-Ziel zu erreichen. Noch ist alles möglich.
Doch dann geht plötzlich nichts mehr. Das Gedankenkarussell stoppt, das Herzrasen auch. Müllers Kopf ist leer, da ist nur noch Nebel. Und Stille. "Ich bin nicht mehr aus dem Bett gekommen. Ich habe einfach nur dagelegen." Über Wochen liegt sie im Bett, starrt an die Decke. "Mein Körper hat über Jahre geschrien, dass ich aufhören soll, aber ich habe nicht zugehört, dachte, das wäre normal – aber dann war es irgendwann vorbei. Ich habe den Warnschuss nicht gehört."
Müller macht eine zweimonatige Akuttherapie. Sie sagt: "Ein Burnout kann man ja wenigstens 'reparieren'". Und das versucht sie. Essen nicht vergessen, genügend trinken, schlafen. "Ich darf mir den Tag nicht zu voll packen und muss mich immer darauf besinnen, dass ich meine Routinen berücksichtige." Mal klappt das ganz gut, dann wieder kommt eine schwierige Phase. "Aber es sind Phasen und kein Dauerzustand mehr, das ist ein Fortschritt."
Es ist ein ständiger Lernprozess.
"Ich muss mir immer und immer wieder sagen: Alles ist okay, ich muss nicht alles allein schaffen. Ich kann das Klima nicht allein retten." In der Therapie lernt Müller, loszulassen, durchzuatmen. Es sind Kleinigkeiten, die ihr nach und nach helfen, ihre Gedanken nicht immerzu um die Klimakrise und ihre Folgen kreisen zu lassen. Sie meditiert, macht morgens nach dem Aufstehen Yoga. Sie liest, malt auf dem Handy Mandalas aus – das hilft ihr besonders, wenn die Welt um sie herum verschwimmt, ihr Herz rast und sich alles schneller dreht. Durchatmen, spazieren gehen, schlafen, Musik hören. Und vor allem: Den Perfektionsdrang rausnehmen. "Was sind Bedürfnisse? Ich habe das einfach nicht gewusst, meinen Körper überhaupt nicht verstanden."
Müller sucht den Kontakt zu anderen Klimaaktivist:innen, denen es ähnlich geht. "Es sind bei Fridays for Future viel mehr Menschen als man denkt, die unter einem Burnout oder krassen Stresssymptomen leiden", sagt Müller. Sie alle eint die Angst vor den Folgen der Klimakrise, der Druck, die Welt retten zu müssen. Nicht irgendwann, sondern jetzt. "So ein Burnout entsteht ja nicht durch eine stressige Arbeitswoche", sagt sie. Sie streicht sich den Pony aus dem Gesicht, denkt eine Weile nach. "Das brodelt und entsteht ja über lange Zeit."
Der Kontakt zu Gleichgesinnten aber hilft ihr. "Ich bin nicht geheilt, aber es geht mir schon besser", sagt Müller. In ihren Gedankengängen, in ihrem Tun seien gerade viele Prozesse im Gange. Eine wichtige Sache aber habe sie verstanden: "Ich bin Aktivistin und ich werde nie aufhören, mich für den Klimaschutz zu engagieren", sagt sie, hält inne und atmet tief ein und wieder aus. "Aber wenn ich ausfalle, dann haben wir mittlerweile eine Struktur, die das auffängt, sodass weiter für eine klimagerechte Welt gekämpft wird. Im Zweifelsfall auch ohne mich."
*Name und Wohnort der Protagonistin wurden von der Redaktion geändert