Es sind die Wochen der Nostalgie in Dortmund. Nur allzu gerne schwelgt man nach den ernüchternden Leistungen der Hinrunde in vergangenen, besseren Zeiten. Mit der Ernennung von Sven Bender und Nuri Şahin zu Co-Trainern weht nun wieder ein Hauch der Meisterschaften von 2011 und 2012 über das Dortmunder Trainingsgelände.
Um den Zauber der (nicht ganz so fernen) Vergangenheit zu komplettieren, ist nun auch noch Jadon Sancho von Manchester United zurückgekehrt. Zwischen 2017 und 2021 lief er bereits für den BVB auf. Wie der Verein am Donnerstagmittag mitteilte, kommt er per Leihe bis zum Saisonende. Eine Rückholaktion, die weder einer Komik noch eines Risikos entbehrt.
Fest steht: Über die grundsätzliche Veranlagung von Jadon Sancho gibt es keine zwei Meinungen. In 137 Pflichtspielen für den BVB kommt Sancho auf 50 Tore und 64 Vorlagen. Schnell entwickelte er sich nach seiner Ankunft zum unverzichtbaren Stammspieler und konsequenterweise zum nächsten großen Dortmunder Exportschlager. Für 85 Millionen Euro wechselte er 2021 schließlich zu Manchester United.
Von da an ging es für den bislang so aufstrebenden Sancho fast nur noch bergab. Nach einer erneuten Niederlage zum Jahresbeginn 2022 titelte die Boulevardzeitung "Sun", Sancho sei "der Schlechteste eines ohnehin schlechten Haufens". Für die britische Presse hielt er als dankbares Beispiel für den Qualitätsunterschied zwischen Premier League und Bundesliga her.
Der Tiefpunkt des Missverständnisses ereignete sich dann Mitte September vergangenen Jahres, als der 23-Jährige von United-Trainer Erik ten Hag aufgrund schlechter Trainingsleistungen aus dem Kader gestrichen wurde.
Sancho reagierte konsterniert, dementierte die Begründung und behauptete auf Social Media, zum "Sündenbock" gemacht zu werden. Weil er eine Entschuldigung verweigerte, musst er seitdem individuell trainieren.
Bereits hier offenbart sich eine erste mögliche Sollbruchstelle hinsichtlich einer Sancho-Rückkehr: Schon zu Dortmunder Zeiten galt der Engländer als schwieriger Charakter, kam mehrmals verspätet zum Training und schien häufig mehr um den Schnitt seiner Frisur als um den seiner Statistiken bemüht.
Inmitten einer ohnehin mannschaftsintern angespannten Lage beim BVB könnten etwaige disziplinarische Fehltritte die Stimmung noch weiter verschlechtern. Wie unter anderem Sky berichtete, sollen Teile der Mannschaft vor Kurzem an BVB-Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke herangetreten sein, und die Amtseignung von Trainer Edin Terzić hinterfragt haben.
Dem Vernehmen nach sollen Şahin und Bender auch dafür engagiert worden sein, den Draht zwischen Trainerteam und Mannschaft wieder zu stärken. Ein Unterfangen, das Jadon Sancho havarieren könnte. Zumal die Rückholaktion eine allgemeine Dortmunder Kreativ- und Ratlosigkeit offenlegt.
"Wenn Du nicht mehr weiter weißt", lautet ein gängiger Ausspruch in der Politik, "dann bilde einen Arbeitskreis." Und wenn man bei Borussia Dortmund nicht mehr weiter weiß, dann bemühte man sich in der Vergangenheit gern um das Engagement ehemaliger Erfolgsgaranten. Mario Götze, Shinji Kagawa, Nuri Şahin und Mats Hummels kehrten alle irgendwann zurück – es ist eine Praxis, die der BVB in den vergangenen Jahren bis zum Klischee getrieben hat.
Dass die Erinnerung mit goldenem Pinsel malt, ließe sich – vielleicht mit Ausnahme von Mats Hummels – am Beispiel aller genannter Spieler ablesen. Keiner konnte nachhaltig an die Form anknüpfen, die sie in ihrem ersten Dortmunder Kapitel unter Beweis gestellt hatten. Gegen Sancho spricht also zumindest einmal die Statistik.
Eine weitere Ungewissheit, die sich aufdrängt, ist das aktuelle Leistungsvermögen von Jadon Sancho. Seit Ende August hat er kein Spiel mehr absolviert. Anlässlich der brisanten sportlichen Lage benötigt Dortmund allerdings zwingend sofortige Hilfe.
Deshalb zweifelte bereits BVB-Berater Matthias Sammer eine mögliche Rückkehr des Engländers an, als die Gerüchte Mitte Dezember erstmals aufkamen. "Ich glaube, die Konstellation ist nicht einfach. Er hat keinen Rhythmus", ordnete er bei "Prime Video" ein. Er halte nicht viel von "aufgewärmtem Kaffee".
Gleichzeitig könnte der Zugang von Sancho den Abgang eines anderen BVB-Profis bedeuten. Wie der für gewöhnlich bestens informierte Transferexperte Fabrizio Romano berichtet, sei es eine "konkrete Möglichkeit", dass Donyell Malen im Gegenzug den Verein verlässt. Ein Abgang Malens war zuletzt häufiger diskutiert worden – auch in Richtung Manchester United.
Aus taktischer Sicht kann Jadon Sancho dem BVB eine Alternative liefern, die etwas mehr Variabilität fördern könnte. Anders als die zumeist gesetzten Karim Adeyemi (der aktuell verletzt ist) und Malen, ist Sancho ein Spielertyp, der weniger auf raumgreifende Tiefanläufe als auf Eins-gegen-Eins-Situationen setzt.
Im watson-Interview erklärte Taktikexperte Benny Grund, dass es dem BVB an einem klaren Plan fehle, in das letzte Angriffsdrittel zu kommen. Dort erhalten die Spieler dann aber relativ viel Freiraum – den diese aber oft nicht richtig zu nutzen wissen.
Jamie Bynoe-Gittens und Julien Duranville wären prinzipiell Spieler, die den Raum durch Tempodribblings bespielen könnte, mit Abstrichen auch Giovanni Reyna. Nur: Reyna und Bynoe-Gittens kommen lediglich sporadisch zum Einsatz, Duranville gar nicht. Die Frage also ist, welchen Plan Edin Terzić überhaupt für Jadon Sancho hat.
Sancho hat das Potenzial, in die Rolle des Unterschiedsspielers zu schlüpfen, die Dortmund seit den Abgängen von Jude Bellingham und Raphaël Guerreiro fehlt – und der er vor dreieinhalb Jahren noch selbst unumstritten war. Wenn es die Dortmunder Spielidee und die eigene Einstellung zulassen.