Arne Friedrich ist als deutscher Fußballbotschafter unter anderem nach Kiew gereist.Bild: IMAGO images / Political-Moments
Interview
Arne Friedrich hat schon viele verschiedene Rollen bekleidet: Er war Bundesliga-Profi und einer der WM-Helden von 2006, später Sportdirektor, TV-Experte, Podcaster und Stiftungsgründer. Vor der EM 2024 hat der 45-Jährige eine weitere Aufgabe übernommen: Er ist deutscher Fußballbotschafter.
Im Gespräch mit watson erklärt er seine neue Rolle, berichtet von schockierenden Eindrücken aus der kriegsgeplagten Ukraine und erläutert, wie das DFB-Team im Ausland wahrgenommen wird.
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Watson: Arne, du warst als Fußballbotschafter kürzlich in Kiew. Hat sich bei dir von der Reise ein Bild besonders eingebrannt?
Arne Friedrich: Nachts um 3 Uhr ging die Sirene los, es war die zweite von drei Alarmstufen. Ich musste mich im Badezimmer einschließen, um eine zusätzliche Wand vor der Fensterfront zu haben. Nach einer Stunde bin ich runter in den Schutzkeller, der war schon gut gefüllt. Nach einer weiteren Stunde wurde der Alarm aufgelöst. Am nächsten Tag kam heraus, dass eine Rakete über den Luftraum Kiews geflogen ist.
Was hat das mit dir gemacht?
Das ist ein Moment, in dem man sich nur annähernd vorstellen kann, was es bedeutet, in einem Kriegsgebiet zu leben. Kiew ist durch das Raketenabwehrsystem eine der sichersten Städte der Ukraine. Ich kann mir nicht vorstellen, wie die Familien in anderen Städten leben.
Was macht dieser permanente Ausnahmezustand mit den Einheimischen?
Ich habe gemerkt, dass sich die Menschen in Kiew an die Alarmszenarien gewöhnt haben. Sie versuchen, das Leben dennoch bestmöglich, so normal wie möglich zu leben.
Und wenn die Sirenen wieder heulen?
Ich habe mich mit Locals unterhalten. Mütter müssen bei jedem Alarm entscheiden, ob sie ihre Kinder wecken und in den Schutzkeller bringen. Jüngere Menschen hingegen bleiben oft etwas gelassener. Es ist ein Unterschied, ob man die Verantwortung nur für sich selbst oder auch für andere trägt.
Arne Friedrich (1.v.l.) ist einer der deutschen Fußballbotschafter:innen.Bild: dpa / Bernd von Jutrczenka
Als Fußballbotschafter ist es also vor allem deine Aufgabe, ein offenes Ohr den Ukrainer:innen gegenüber zu haben?
Ich dachte mir vorher selbst, dass ich nichts verändern kann, ich bin schließlich kein Politiker. In der Ukraine aber war es unser Ziel, den Menschen zu signalisieren, dass wir das Land nicht vergessen haben.
Wie haben die Menschen reagiert?
Die Resonanz war enorm, es gibt den Menschen Hoffnung und Mut. Geopolitisch ist eine Menge los, im Gazastreifen und in Afrika gibt es auch Unruheherde. Da kann man schon mal in Vergessenheit geraten. Das hatte ich vorher nicht auf dem Schirm.
Bist du in Kiew auch in direkten Kontakt mit einem Fußballthema gekommen?
Ich habe das Stadion von Lokomotive Kiew besucht. Da ist im Januar eine Rakete eingeschlagen, ein Mensch wurde getötet. Zum Zeitpunkt des Einschlags sollte dort eigentlich ein Kinderteam trainieren, die wären alle tot gewesen. Da wird einem übel, wenn man sich das vor Augen führt.
Kann der Fußball davon ablenken?
Der Fußball hat einen sehr großen Einfluss. Ich habe mit Beinamputierten Zeit verbracht, ein bisschen Fußball gespielt. Das war enorm beeindruckend. Der Kapitän meinte, dass der Fußball die einzige Zeit liefert, in der man nicht an Krieg denkt. Den Eindruck habe ich bei Kindern auch gewonnen. Der Fußball, Teamsport im Allgemeinen, besitzt eine enorme Kraft.
Ist die Vorfreude auf die EM in der Ukraine daher sogar größer als in anderen Ländern?
Das ist schwer zu sagen. Aber ich habe den Eindruck, dass die Spieler nicht nur ihre Mannschaft vertreten, sondern etwas für eine ganze Nation tun. Wohl wissend, dass es viele schöne Momente für die Menschen in der Heimat gibt, je länger die Ukraine im Turnier verbleibt. Dieser Stolz, dieses Zusammenrücken, gerade jetzt im Krieg, finde ich schön.
Lässt sich daraus auch etwas für Deutschland ableiten?
Uns fehlt kein Krieg, in Deutschland fehlt uns aber das Zusammenrücken. Wir könnten tausend politische Debatten führen, bei der Europawahl und der gesamten Stimmungslage sieht man, dass eine Menge los ist, dass die Gesellschaft auseinanderdriftet.
Du bist im Rahmen deiner Aufgabe als Botschafter auch nach Lissabon gereist, pendelst privat zudem zwischen Deutschland und den USA. Wie werden der deutsche Fußball und der DFB im Ausland wahrgenommen?
Wir Deutsche sehen uns etwas kritischer als andere, aber die Leute wissen natürlich schon, dass unsere letzten Turniere nicht die besten waren. Wir werden gewiss nicht als Topfavorit gesehen, aber die Siege gegen Frankreich sowie die Niederlande waren kleine Ausrufezeichen.
Für den US-Sender ESPN steht Arne Friedrich regelmäßig als Experte vor der Kamera.Bild: IMAGO images / Team 2
Was kann der deutsche Fußball aus der Auslandswahrnehmung lernen?
Dass im eigenen Land immer etwas geht. Diese Einstellung sollten wir entwickeln. Mit einem guten Auftaktspiel kann eine Welle entstehen, eine Euphorie, die unserem ganzen Land mit den vielen, auseinandergehenden Meinungen guttut.
Zwischen 2004 und 2010 hast du vier Turniere mit dem DFB gespielt, darunter 2006 als Stammspieler die Heim-WM. Wie besonders war dieses Heimturnier für dich?
Aus meiner Sicht war jedes Turnier besonders. 2006 war aber das prägnanteste, weil es meine erste WM war und die im eigenen Land stattgefunden hat. Die Euphorie und das Zusammengehörigkeitsgefühl, das wir dabei entfachen konnten, waren toll.
Wie viel habt ihr damals von der Stimmung im Land mitbekommen?
Eine Menge, aber nicht genug. Ein Bild, das mir direkt in den Kopf kommt, ist nach dem Spiel gegen Argentinien. Wir haben das Stadion mit dem Bus verlassen, die Bundeswehr hat uns Spalier gestanden. Die Fans sind vor Freude alle ausgerastet.
Arne Friedrich (l.) war beim Sommermärchen als Stammspieler dabei, verteidigt hier gegen Carlos Tévez.Bild: IMAGO images / ABACAPRESS
Wie wirst du nun die Heim-EM begleiten?
Ich bin dieses Jahr das erste Mal wieder richtig als Fan dabei, habe mir kürzlich das neue Heimtrikot geholt. Zum Workout habe ich es schon getragen, zu den Spielen dann sowieso.
Welchen Namen trägst du auf dem Rücken?
Kein Flock, nur das deutsche Trikot, weil ich die ganze Mannschaft unterstütze.
Als Botschafter oder TV-Experte bist du zur EM also nicht tätig?
Nein, als Botschafter habe ich keine Aufgaben während der EM. Ich werde ein bisschen für internationale Medien arbeiten – aber nicht zu den Deutschland-Spielen, die möchte ich als Fan mit Freunden verfolgen.
Trotzdem ist jetzt deine Expertenmeinung zur DFB-Elf gefragt: Wie weit kommt das deutsche Team?
Eine valide Antwort zu treffen, ist eigentlich nicht möglich. Aus Hoffnung und Optimismus heraus sage ich, dass wir das Halbfinale erreichen. Ich wünsche mir den Titel, noch lieber wäre mir aber eine ähnlich gute Stimmung wie 2006.
Ist es richtig, Mats Hummels zu Hause zu lassen?
Seine Form war zuletzt beeindruckend, ich finde es aber verständlich, was Nagelsmann gesagt hat. Er achtet nicht nur auf das Sportliche, sondern auch auf die Zusammensetzung des Kaders – dass nicht nur Häuptlinge dabei sind, sondern dass die Mischung passt.
Ist es richtig, im Tor auf Manuel Neuer zu setzen, obwohl er in den vergangenen Wochen viele Fehler gemacht hat?
Ter Stegen würde genauso in die Mannschaft passen, aber das Wichtigste ist, dass eine klare Ansage getroffen wird und Ruhe einkehrt. Nagelsmann hat eine Entscheidung getroffen und diese klar kommuniziert. Das finde ich gut.
Welcher Spieler oder welches Team wird bei der EM überraschen?
Es ist vielleicht nicht allzu überraschend, aber ich rechne mit einem guten Turnier der Kroaten. Die haben hierzulande auch eine gute Fanbase. Österreich traue ich ebenfalls ein gutes Turnier zu.
Und wer sind Deutschlands ärgste Widersacher im Kampf um den Titel?
Frankreich muss man immer nennen, wobei die zuletzt keine einfache Phase hatten und sehr von Kylian Mbappé abhängig sind. England hat ein starkes Team, besonders in der Offensive. Die Italiener darf man auch nie vergessen, wenngleich sie in den letzten Jahren einen Umbruch vorgenommen haben. Spanien ist spielstark, Kroatien und Belgien schätze ich auch stark ein. Es sind einige Teams, am Ende ist es auch eine Frage der Tagesform.