Sonntagnachmittag, mein Freund und ich lümmeln auf der Couch und schauen, was das Netz so an neuen Serien und Filmen zu bieten hat. Wir stolpern über ein neues Format, "The Race". "Kennst du das?", fragt er mich. Tue ich nicht. Wir schauen rein.
Das ganze beginnt sehr abenteuerlich. Man sieht fünf Männer mit verbundenen Augen, sie stehen Rücken an Rücken in einer Gasse. Es wird im Countdown heruntergezählt, sie nehmen die Augenbinde ab. Nach einer kurzen Orientierung und einem schnellen Abschied rennen sie in unterschiedliche Richtungen los.
In dem Moment beginnt "The Race" also auch schon. Ziel ist, als Erster die Stadt Köln zu erreichen. Ohne Geld und ohne Smartphone. Außerdem wichtig zu wissen: Startpunkt ist Tanger, eine Stadt im Norden Marokkos.
Ausgestattet sind die Teilnehmer mit mehreren Kameras und einem Rucksack mit einigen Gegenständen, die eine Reise potenziell angenehmer machen: ein Schlafsack, eine Plane, eine Landkarte. Ein einfaches Telefon, mit dem sie dem Organisationsteam regelmäßig mitteilen können, dass es ihnen gut geht, und ihren deutschen Reisepass haben sie ebenfalls dabei.
Die Jungs müssen sich erst einmal orientieren und schauen, wie sie zum nächstgelegenen Hafen kommen. Das Ziel aller ist es, noch am selben Tag mit einer Fähre nach Spanien zu gelangen. Sie fragen Einheimische nach dem Weg und ab da komme ich ins Grübeln.
Denn die freundlichen Menschen in der Stadt Tanger schlagen ihnen Busverbindungen oder ein Taxi vor, die Strecke bis zum Hafen ist weit. Nun müssen die Teilnehmer jedoch erklären, dass sie kein Geld haben, während sie das ganze mit mindestens einer GoPro filmen. Gut angezogen und sauber sind sie auch. Dass sie kein Geld haben, sei wegen eines Spiels, eines Wettbewerbs, den sie mit Freunden machen.
Daraufhin zücken gleich mehrere Marokkaner:innen den Geldbeutel, geben den deutschen Abenteurern ein paar Münzen, damit es zumindest für eine Bus- oder Taxifahrt reicht. Sie finden die Idee lustig, wollen helfen.
Die Deutschen bedanken sich natürlich aufrichtig und man merkt auch, dass es ihnen nicht unbedingt leicht fällt nach Geld zu fragen oder dieses anzunehmen. Aber am Ende bleibt ihnen nichts anderes übrig. Wenn die Marokkaner:innen ihnen kein Geld geben, können sie ihr Spiel nicht spielen.
Einer der Teilnehmer möchte gerne irgendwo ein paar Stunden arbeiten, um sich Geld für die Fähre zu verdienen. Er versucht sein Glück in ein paar Hotels, keiner möchte ihn arbeiten lassen.
Auf der Straße fragt er einen Einheimischen, ob es irgendwo Arbeit gebe. Dieser antwortet: "Wir finden hier selbst keine Arbeit, es gibt nicht genug Arbeit für uns." Spätestens ab diesem Zeitpunkt wächst meine Fremdscham ins Unermessliche und ich frage mich: Haben die das Konzept ihres Formates eigentlich bis zum Ende durchgedacht?
Die Jungs schlagen sich weiter durch, einige haben es bereits zu einem der Häfen der Stadt geschafft. Aber hier ist wieder Geld ein Problem. Eine Fahrt mit der Fähre nach Spanien kostet zwischen 32 Euro und 42 Euro. Während es einem Teilnehmer gelingt, sich bei anderen Touristen ranzuhängen und sie ihn tatsächlich mitnehmen und ihm ein Ticket kaufen, muss sich der Rest anders weiter helfen.
Einer fragt in einem belebten Stadtteil so lange Tourist:innen nach Geld, bis er den nötigen Betrag für die Überreise zusammen hat. Einer lügt einen Mann am Ticketautomaten an, drückt auf die Tränendrüse, bis der Mann ihm schließlich ein Ticket gibt. Ein anderer hält sich so lange am Hafen auf, bis er der Polizei auffällt. Diese möchte vermutlich einfach keinen Ärger mit einem deutschen Touristen, der alles filmt und gibt ihm tatsächlich genug Geld, um ein Ticket zu kaufen.
An dieser Stelle sollte man einmal die Relationen zwischen den beiden Ländern Marokko und Deutschland betrachten. Denn das durchschnittliche Jahreseinkommen in Deutschland liegt laut dem Vergleichsportal Länderdaten bei 49.968 Euro. In Marokko liegt es bei gerade mal 3394 Euro. Sich in diesem Land wegen eines Spiels von den Einheimischen Geld geben zu lassen oder nicht für ein Ticket zu zahlen ist in meinen Augen – gelinde gesagt – frech.
Zurück zu den Teilnehmern. Die haben es mittlerweile alle irgendwie auf eine Fähre geschafft. Und setzen mit geschenkten Tickets und ihren deutschen Reisepässen zum Spaß über ein Gewässer, das regelmäßig für Geflüchtete den Tod bedeutet.
Vergangenes Jahr sind laut dem Nachrichtensender Tagesschau mindestens 3105 Migrant:innen beim Versuch der Mittelmeerüberquerung nach Europa ums Leben gekommen oder gelten als vermisst. Das scheint mir als Strecke für ein spaßiges Wettrennen doch irgendwie nicht die richtige Wahl zu sein.
Und als die erste Nacht während ihres Wettrennens anbricht, fällt mir noch etwas auf: Es gibt keine einzige Frau bei "The Race".
Auch hier zeigt sich, dass an diesem Format eben hauptsächlich Männer teilnehmen können. Denn: Allein ohne Geld, Handy und jegliche Sicherheit unterwegs zu sein – das können sich eben nur Männer leisten.
Bei dem Gedanken, mehrere Nächte ohne Geld darauf angewiesen zu sein, jemand Freundliches zu treffen, der mir für eine Nacht einen Schlafplatz anbietet oder mich alleine ohne Zelt irgendwo zusammenrollen zu müssen, stellen sich mir die Nackenhaare auf.
Das wohl perfideste an dem Konzept: Die Teilnehmer sind darauf angewiesen, dass andere ihnen helfen und ihnen Geld geben, können aber selbst ein Preisgeld gewinnen, wenn sie als Erster Köln erreichen.
Ich möchte an dieser Stelle einen Strich ziehen und einerseits nicht alles spoilern und andererseits die Serie nicht alles schlecht machen. Denn es gibt auch spannende und herzerwärmende Momente, wenn einer der Teilnehmer dem Ziel ein Stück näher kommt, ein lustiger Zufall passiert oder sie auf hilfsbereite Menschen stoßen.
Das Format hat durchaus Unterhaltungspotenzial, die Idee ist neu und spannend. Aber liebe Entwickler: Vielleicht sucht ihr euch für euer nächstes Race Länder aus, in denen ihr euer Spiel nicht auf Kosten von Menschen macht, die keine Arbeit finden und im Schnitt deutlich weniger verdienen als ihr.
Und vielleicht sucht ihr euch auch keine eine Route aus, auf der ihr mit eurem deutschen Reisepass zwar unbehelligt auch mal ein Ticket von einem Polizisten zugesteckt bekommt, andere jedoch jedes Jahr zu Tausenden ihr Leben lassen.