Es ist Samstag. Der Oktober zeigt sich von seiner
besten Seite. Ein Mädchen in Jeansrock und schwarzem
Schlabbershirt brettert durch den Jugendwerk-Skatepark (JuWe) in
Berlin-Lichterfelde.
Zwei etwa gleichaltrige Jungs sitzen in voller Montur
mit ihren Boards am Rand und staunen. Ihre Blicke sagen: Wow
– wie cool ist bitte dieses Mädchen, das alles kann, was wir gerne könnten!
Es ist nicht irgendein Mädchen, das da an irgendeinem Samstag skatet. Es ist Deutschlands beste Skateboarderin: Lilly Stoephasius. Sie ist elf Jahre alt.
Video: watson/Lia Haubner, Arne Siegmund
Die Schülerin aus Charlottenburg feierte im September
in Düsseldorf den Gewinn der deutschen Meisterschaft in der Disziplin "Park".
Weil es in dem Wettbewerb keine Altersklassen gab, gewann sie auch gegen
deutlich ältere Konkurrentinnen.
Lilly ganz oben auf dem Podest – und doch die Kleinste...
Im Frühjahr ist Lilly außerdem Vize-Europameisterin
geworden und hat bereits internationale Erfahrungen bei Wettbewerben u.a. in Los
Angeles und Malmö gesammelt.
"Beim größten Half-Pipe-Contest der Welt bin ich
Vierte geworden. Vor mir waren drei US-Top-Skater. Da war ich erst zehn." Wenn nichts dazwischenkommt,
fährt sie in zwei Jahren nach Tokio zu Olympia. Mit 13.
Skateboarding feiert Olympia-Premiere – mit Lilly?
Im Sommer 2020
wird Skateboarden seine olympische Premiere feiern, wie auch Sportklettern, Karate, Baseball und Surfen.
Das Internationale Olympische Komitee (IOC) will
sich jungen Sportarten öffnen, sein Image aufpolieren.
Sportarten, die helfen könnten, dass
es bei den Spielen wieder mehr um den olympischen Gedanken von Frieden,
Fairness, Freude geht – und weniger um Macht, Gier, Kommerz und Korruption.
Im kommenden Jahr beginnt die Qualifikation, an der Lilly
teilnehmen wird.
Bis dahin heißt es: üben, üben, üben.
"Benutzung der Anlage nur mit
geeigneter Schutzausrüstung und auf eigene Gefahr", steht in astreinem
Behördendeutsch auf dem Eingangsschild des JuWe-Skateparks.
Lilly Stoephasius aus Berlin ist deutsche Skateboardmeisterin und Vize-Europameisterin.foto: lia haubner
Lilly hält sich dran: Sie trägt Helm, Schoner an
Knien, Handgelenken und Ellbogen – alles wirkt ein wenig zu groß für ihren
Kopf, ihre Beine und Arme. Sie stürzt sich auf ihrem Skateboard in die Bowl,
ein großes Betonbecken, das an einen leergepumpten Swimmingpool erinnert. Sie
rattert hoch und runter. Die Rollen ihres Boards rauschen auf der rauen
Oberfläche.
Ihr Vater hat ihr das Skaten beigebracht
Klack! Oben, auf der Kante, stoppt sie, dreht sich
elegant, dann stürzt sie sich wieder in die Tiefe. Beherzt, ohne Angst. Ihr
überschulterlanges Haar weht im Fahrtwind.
"Mein Vater hat mir das Fahren beigebracht, sobald ich
stehen konnte", erzählt Lilly. Ihr erstes Board hat sie mit drei Jahren
bekommen. "Als ich fünf war, haben wir angefangen, jede Woche einmal zu
trainieren." Mittlerweile trainieren die beiden viermal die Woche "immer so
zwei bis drei Stunden".
"The Day I Fell In Love With Skateboarding"
Ihr Papa, Oliver Stoephasius, 55, skatet seit 1976,
ist quasi ein Rollbrett-Pionier in Deutschland. Er ist bis heute ihr Trainer,
wobei man sagen muss, dass Lilly sogar zwei Trainer hat: Papa und den
Skateboard-Bundestrainer Jürgen Horrwarth, mit dem sie einmal in der Woche trainiert. Sie will ja nach Tokio zu Olympia,
skaten für Deutschland – wenn nichts dazwischenkommt.
Viele Skater fürchten negative Auswirkungen auf ihre Szene.
Dass Skateboarding in Tokio olympisch sein wird, ist in
der Szene umstritten: Der Wettbewerbsgedanke widerspräche dem
Skateboarding, das sich eher als Subkultur und Lebenseinstellung versteht.
Skaten sei solidarisch und weniger kompetitiv.
Die Kultur des Skatens
könnte durch Olympia ihrer Identität beraubt werden, wenn ihr
Sportförderrichtlinien, Verbandsstrukturen und Nationendenken übergestülpt werden.
Lilly, die im 1. Berliner Skateboardverein fährt,
sieht das alles nicht ganz so dramatisch: Selbst im härtesten Wettkampf sei es
beim Skateboardfahren nie eine Konkurrenzsituation, erklärt sie. Alle seien
irgendwie befreundet, man helfe sich gegenseitig. Skaten sei wie eine große
Familie.
"Skateboarder mögen sich alle, auch im Wettkampf", versichert sie und
glaubt, dass Olympia das alles nicht kaputtmachen würde. "Ich kann die Leute
aber verstehen, die sagen, dass Olympia und Skaten nicht zusammenpassen",
findet Lilly.
Der Papa: Oliver Stoephasius, Skateboardpionier und Lillys Trainer.bild: imago
Papa Oliver sieht es pragmatisch: "Einerseits glaube
ich, dass Olympia Skaten mehr braucht als umgekehrt. Auf der anderen Seite
führt das Frauenskaten ein ziemliches Schattendasein. Das dürfte durch Olympia
an Fahrt aufnehmen. Das kann dem Sport helfen."
Er ruft Lilly zu:
"Du könntest mal ‘nen Frontside-50-50 machen!"
Er meint damit einen Trick, bei dem man am höchsten
Punkt der Rampe mit beiden Achsen des Boards die Reling berührt. – "Ja, habe ich
auch grad überlegt!" Und, zack, stürzt sie sich wieder in die Bowl.
Neue Tricks lerne sie mit dem Papa, der Bundestrainer
kümmere sich um den Feinschliff, die kleinen Details: Sich richtig bewegen,
damit man sich nicht verletzt, auf die Fußstellung achten, spezielle
Aufwärmübungen. Wichtige Dinge, die Papa manchmal nicht weiß, wie Lilly zugibt.
Skaten, Schule, Freunde, Ballett? Easy!
Zur Erinnerung, wer sie ist: eine elfjährige Schülerin. Auch Hausaufgaben,
Lernen, Freunde stehen auf dem Plan. Außerdem geht sie zum Ballett, lernt dort
schnelle Drehungen, Körpergefühl, Balance – elementar fürs Skaten.
Fünfmal Training pro Woche, Schule, Freunde, Ballett, das kriegt Lilly
locker unter einen Hut: "Ich lerne nicht besonders viel, aber ich bin sehr gut
in der Schule." Und so sei es kein Problem, wenn sie für Skate-Wettbewerbe vom
Unterricht befreit werden muss. "Meine Freunde unterstützen mich beim
Skateboarden. Als ich deutsche Meisterin geworden bin, haben sie eine Party
gemacht. Das fand ich total süß."
Lilly in der Bowl des "JuWe"-Skateparks.
Andere schauen Lilly aber auch schief an, wenn sie
vier Tage Sonderurlaub bekommt, um mal eben nach Los Angeles zu einem Contest
zu jetten. "Aber ich bin da ja nicht zum Urlaub hingefahren. Das war eine
Riesenchance für mich. Es ist mir recht egal, was die anderen sagen."
Lilly, Skaten und der olympische Gedanke
Lilly macht ihr Ding. Ein Champ im Miniformat. Sie
wirkt reflektiert, ist redegewandt: "Durchs Skateboarden kommt man immer an schöne
Orte. Bei Wettkämpfen fährt man mit anderen Mädchen und hat Spaß. Es ist
einfach eine kreative und kultivierte Sportart. Man kann viel ausprobieren und
man lernt viele verschiedene Menschen kennen." – In diesem Satz einer elfjährigen Skaterin steckt viel des olympischen Gedankens von Friede, Freude und
Fairness.
Vielleicht kann eine junge Sportart wie Skateboarden ja tatsächlich etwas
bewirken. Olympia braucht Sportler wie Lilly. "Einfach
nur: Dabei sein ist alles!" So kann Tokio 2020 kommen. "Und wenn’s nicht klappt, dann wird’s halt erst 2024
was." Mit 17.