Gerade erst geht mit
dem mutmaßlichen Angriff des ehemaligen Radsportlers Jan Ullrich auf eine Escortlady wieder ein prominenter Fall durch die Medien, der Sexarbeit und Gewalt in den
Fokus rückt. Sind gewalttätige Übergriffe ein Berufsrisiko, mit dem
Prostituierte ständig rechnen müssen? Charlie Hansen: Ich kann aus eigener Erfahrung sprechen und von einigen
Kolleginnen berichten, dass wir selten physischer Gewalt durch Freier
ausgesetzt sind. Viele Menschen mögen Übergriffe und Sexarbeit in eine
Schublade stecken, das ist aber keinesfalls die Regel. Es kommt viel seltener
zu Vorfällen als viele denken. Wenn wir Gewalt erfahren, dann häufiger von
Leuten, die nicht unsere Kunden sind.
Charlie Hansen
... ist Generalsekretärin beim Bundesverband erotische und sexuelle Dienstleistungen.
Von wem dann? Hansen: Uns im Verband fällt auf, dass viele Kolleginnen vermehrt dort
Gewalt ausgesetzt sind, wo Straßenprostitution öffentlich sichtbar stattfindet.
Am Kurfürstenkiez in Berlin zum Beispiel werden viele beschimpft und
angegriffen, vor allem richten sich die Aggressionen gegen transsexuelle
Sexarbeiterinnen. Aber nicht die Kunden attackieren sie, sondern
Passanten oder Menschen in vorbeifahrenden Autos.
Eine Huren- und Transphobie kommt dort zum Vorschein.
Würden Sie sagen,
dass das Problem im öffentlichen Ansehen von Prostituierten liegt? Hansen: Unser Beruf ist stark stigmatisiert und die Vorurteile
machen uns angreifbarer. Sexarbeiterinnen gelten in den Augen vieler per se als
Opfer ihres Berufs. Viele denken, wir seien sowieso nicht selbstbestimmt. Diese
Sichtweise begünstigt Angriffe.
Es ist schließlich leichter, einem Menschen Gewalt anzutun, den man eh als Opfer sieht.
Spüren Sie diese
Vorurteile auch in anderen Situationen? Hansen: Ja, aber in anderer Form. Stellen Sie sich vor, Sie hatten
einen schlechten Tag auf der Arbeit, ein Kollege hat Sie genervt oder Ihre
Grenzen nicht respektiert. Sie gehen nach Hause und sprechen wahrscheinlich mit
Ihrem Partner oder Ihren Freunden darüber und verarbeiten so die Situation.
Bild: E+
Wenn ich meiner Nachbarin erzähle: Ach, vorgestern hatte ich einen Typen, der
war unmöglich. Hat ständig nach Dingen gefragt, die ich nicht machen wollte und
immer wieder musste ich ihm Grenzen aufzeigen. Dann ist die Wahrscheinlichkeit
sehr hoch, dass sie mich fragt: Was machst du auch diesen Job? Als dürfte ich
mich als Sexarbeiterin nicht beschweren! Das würde man eine
Versicherungsangestellte nicht fragen, oder?
Ein anderes Beispiel: Ich habe Kolleginnen, die gern
psychologische Hilfe in Anspruch nehmen würden – aus verschiedenen Gründen, die
nicht einmal etwas mit ihrem Beruf zu tun haben müssen. Doch selbst in
psychologischen Praxen ist unser Berufsbild teils mit Vorurteilen belastet.
Sobald wir über unseren Beruf reden, wird das pathologisiert und nicht
respektiert.
Welche Folgen hat das? Hansen: Man redet nicht mehr darüber, macht vieles mit sich selbst
aus. Oder schlimmer: Einige Kolleginnen zeigen beispielsweise Vergewaltigungen
nicht an, weil sie befürchten müssen, von Polizisten nicht ernst genommen zu
werden.
Ich glaube, es ist ohnehin für jede Frau schwierig, so ein Erlebnis anzuzeigen.
Es ist demütigend zur Polizei zu gehen und zu
erzählen, was passiert ist, nochmal alles zu durchleben und dann zu befürchten,
dass der Typ vielleicht nie geschnappt wird. Wenn man aber als Hure auf der
Wache auftaucht und Missbrauch auf der Arbeit anzeigen will, stehen auch heute
noch Beamte vor einem, die tatsächlich meinen, es sei nicht möglich, als Sexarbeiterin
vergewaltigt zu werden. Solche Meinungen und Vorurteile in der Gesellschaft
führen dann dazu, dass Kolleginnen sich gleich gegen eine Anzeige entscheiden.
Es gibt seit vergangenem Jahr das Prostituiertenschutzgesetz, das unter anderem Sexarbeiterinnen
schützt. Hansen: Vermeintlich! Dort stehen viele Auflagen und Regulierungen
drin, aber was ist mit unseren Rechten? Welche Rechte haben zum Beispiel Opfer
von Ausbeutung und Menschenhandel?
Dieses Gesetz erreicht in weiten Teilen eher das Gegenteil von Schutz.
Viele migrantische Kolleginnen etwa können sich nicht
anmelden – wie vom Gesetz vorgesehen – weil sie keine Arbeitserlaubnis haben. Sie
müssen aber weiterarbeiten, also machen sie das unterm Radar und ihre Situation
wird noch illegaler als vorher – und gefährlicher. Das verkehrt die Situation
für viele Schutzbedürftige ins Gegenteil.
Andere arbeiten jetzt illegal, weil sie sich nicht anmelden
möchten: Sie haben Angst vor einem Outing. Viele arbeiten unter Pseudonym und
fürchten, dass ihr Klarname rauskommt, wenn sie sich behördlich registrieren.
Und dass dann die Nachbarn Bescheid wissen, vielleicht auch die Eltern. Sie
wählen lieber den illegalen Weg, melden sich nicht an, arbeiten ohne
Bescheinigung.
Das wiederum erhöht die Gefahr, erpressbar zu sein.
Was müsste passieren,
um die Situation für Sexarbeiterinnen zu verbessern? Hansen: Der Beruf muss entkriminalisiert werden, da gibt es in
Deutschland noch Nachholbedarf. Nehmen wir als Beispiel die Sperrbezirke, also
Bereiche, in denen die Arbeit verboten ist. Sexarbeiterinnen, die dort arbeiten
und angegriffen werden, zeigen die Täter oft nicht an, weil sie ja illegal an
dieser Straße standen. Sie müssten sich in dem Moment selbst anzeigen. Solche
Regeln führen dazu, dass Sexarbeiterinnen ihre Rechte nicht durchsetzen können.
Und wir sollten noch viel mehr über das eigentliche Problem
sprechen: Die grundsätzliche Gewaltbereitschaft gegenüber Frauen, nicht nur in
unserer Branche. Das fängt in der Gastronomie an und zieht sich bis nach
Hollywood, denken wir nur an Me Too.
Türkei-Urlaub: Mega-Erdbeben in Istanbul "längst überfällig"
Seit einer Woche erschüttern zahlreiche Erdbeben die Region rund um Istanbul. Tourist:innen müssen wohl auch künftig ein gewisses Grundrisiko mit einplanen.
Seit der vergangenen Woche werden die Menschen in Istanbul immer wieder von Erdbeben aufgeschreckt. Das stärkste Beben erreichte am vergangenen Mittwoch eine Stärke von 6,2. Mindestens 236 Menschen wurden dabei verletzt; manche, weil sie vor Panik aus dem Fenster sprangen.