Die Vorgärten werden grüner, die Straßenkreuzungen leerer. Lichterfelde, das ist dort, wo Berlin ins Provinzielle verschwimmt. Hier im Süden der Hauptstadt denken sie groß. Der FC Viktoria 1889 Berlin will in den Profifußball – schließlich ist der Verein zweifacher Deutscher Meister. Zwar aus den Jahren 1908 und 1911, aber von dieser weit zurückliegenden, glorreichen Vergangenheit könnte Viktoria nun profitieren: Ende Mai gab der Verein in einer Pressemitteilung bekannt, in Zukunft mit einem chinesischen Investor zusammenarbeiten zu wollen.
Dahinter steckt: Alex Zheng. Er ist milliardenschwerer Gründer der Plateno Group, Chinas größter Hotelgruppe. Der vermeintliche Viktoria-Heilsbringer ist darüber hinaus Vorstandsvorsitzender der Advantage Sports Union (ASU), die 80 Prozent der Anteile des französischen Erstligisten OGC Nizza hält. Auch in den US-amerikanischen Zweitligisten Phoenix Rising investierte der Sportvermarkter bereits. Nun soll das Portfolio also weiter ausgebaut werden. In Deutschland. In Berlin.
Das Kuriose am Fall Viktoria Berlin: Drei Monate nach der Pressemitteilung will man das Thema ASU im Verein am liebsten totschweigen. Der Verein rückt keine neuen Infos heraus und schiebt auf Nachfrage ständig vor, es sei noch nichts entschieden in der Investorenfrage. Auch auf die Frage, warum der Verein denn dann bereits so früh an die Öffentlichkeit gegangen ist, wenn die Kooperation noch längst nicht in trockenen Tüchern ist, erhält man keine Antworten.
Viktorias Zweiter Vorsitzender Harald Sielaff träumte bereits groß. Im Interview mit der B.Z. ließ er folgende Aussage fallen: "Mit Leipzig und Hoffenheim hat man an zwei guten Beispielen gesehen, was möglich ist, wenn jemand käme und langfristig plant." Konfrontiert mit dem Zitat muss Sportdirektor Rocco Teichmann schwer atmen:
"Der Vergleich hat meiner Meinung nach nichts mit dem Verein Viktoria Berlin zu tun. Wir grenzen uns mit unseren Rahmenbedingungen, mit unserer Verbindung zur Stadt Berlin und unseren gemeinnützigen Engagement – auf das wir sehr stolz sind – extrem von solchen Projekten ab. Wir wollen nachhaltig erfolgreich sein und unsere eigene Geschichte weiterschreiben.
Sie nennen RB und Hoffenheim explizit "Projekte". Eine
ausgegliederte Viktoria wird also ganz klar nicht zu einem solchen "Projekt"?
Wir wollen unsere Erste Mannschaft so entwickeln,
dass sie als Zugpferd für den kompletten Verein funktioniert, sodass er zu
einem gesamtgesellschaftlichen Begegnungsort wird. Mir geht es also darum, den
kompletten Verein weiterzuentwickeln, nicht nur die Erste Mannschaft. Ich
spiele beispielsweise in unserer Dritten Herrenmannschaft mit – und uns ist es
total egal, wie der Rasen gemäht ist. Uns ist es wichtig, dass wir eine Truppe
sind, die sich darüber freut, in Himmelblau aufzulaufen.
Doch auch wenn Teichmann sich partout nicht auf den von seinem Kollegen initiierten Vergleich einlassen will: Viktoria Berlin weist überraschend viele Parallelen zur Aufstiegsgeschichte RB Leipzig auf.
Um das Ziel des bezahlten Fußballs mit Viktoria Berlin möglichst kurzfristig zu erreichen, wurde Ende Juni eine außerordentliche Mitgliederversammlung einberufen. Thema des Abends: die Ausgliederung der Ersten Männerfußballmannschaft in eine "noch zu gründende sogenannte Tochter-Kapitalgesellschaft".
97,5% der 121 anwesenden stimmberechtigten Viktoria-Mitglieder stimmten für die Ausgliederung – und somit auch für weitere Gespräche mit der ASU. Denn nur durch das Herauslösen der in den Profibereich strebenden Fußballmannschaft aus dem eingetragenen Verein Viktoria 1889 und ihrer Umwandlung in eine Kapitalgesellschaft lassen sich auch Anteile veräußern, die die asiatischen Unternehmer erwerben können.
"Die Mitgliederversammlung hat vor allem eines bewiesen: Vertrauen in die handelnden Personen des Vorstands", fasst Rocco Teichmann zusammen. Von Goldgräberstimmung ist die Viktoria jedoch noch weit entfernt. Zum Heimspiel gegen Nordhausen sind gerade einmal knapp 600 Zuschauer im nicht drittligatauglichen Stadion Lichterfelde. Teichmann spricht dennoch von einer "leichten Euphorie", schließlich beliefen sich die Besucherzahlen in der vergangenen Regionalligasaison auf um die 300.
"Die Ruhe, die wir hier haben", so Teichmann, "sollten wir uns beibehalten." Das ganz große Medienecho, das nach der Bekanntgabe der geplanten Kooperation zwischen der ASU und der Viktoria Ende Mai, Anfang Juni, ausbrach, habe dem Verein ordentlich geschadet, berichtet ein Stammviktorianer in der Halbzeit des Nordhausen-Spiels am Grillstand. Lokale Unternehmer, die eine Bandenwerbung finanzierten, seien abgesprungen und hätten dem Verein zu verstehen gegeben, dass sie in schlechteren Zeiten nicht mehr auf sie zählen könnten, wenn er sich nun in den Schoß eines chinesischen Milliardärs setze. Rocco Teichmann entgegnet darauf:
"Die wirtschaftlichen Partner halten sich in Grenzen, weil sie für sich nicht den Mehrwert sehen, einen Verein wie Viktoria zu unterstützen. Es fehlt ihnen an Sichtbarkeit." Auch deshalb begrüße er die weiteren Gespräche mit den möglichen Investoren der ASU, die durch die Ausgliederung ermöglicht wurden.
Lok-Leipzig-Trainer Heiko Scholz brachte seine Meinung zu den viktorianischen Visionen im "MDR" auf den Punkt:
Denn auch wenn Sportdirektor Teichmann aus einer Besucherzahl von 600 eine Euphorie herauszulesen versucht, versteht sich die Mehrzahl der gegen Nordhausen anwesenden Zuschauer höchstens als Sympathisanten, nicht jedoch als Fans. Auf Nachfragen, was man denn vom Kurs Viktorias und dem nahenden Einstieg des chinesischen Investors halte, erhält man durchgehend Achselzucken als Antwort.
Eine Antwort suchen wir auch im Amateurstadion, im Schatten des Berliner Olympiastadions. Am 5. Spieltag der Regionalliga Nordost kommt es hier zum Lokalderby: Die zweite Mannschaft des Bundesligisten Hertha trifft auf Viktoria. Nach Derbystimmung und nach Euphorie sucht man jedoch vergeblich.
Auswärts gibt die Viktoria nicht gerade das Bild eines Vereins mit solider Fanbasis ab: 15 zahlende Gästefans haben die Reise von 13 Kilometer Luftlinie zur Partie im Amateurstadion im Schatten des Olympiastadions gegen die Zweite Mannschaft von Bundesligisten Hertha BSC mitgemacht.
Eine maue Zahl für einen Club, der zur dritten Fußballkraft der Hauptstadt aufsteigen will.
Drei Viktoria-Anhänger auf der Sitztribüne versuchen pflichtbewusst Stimmung zu machen und klopfen gegen die Bandenwerbung. Der bleierne Hall verpufft ebenso wie das uninspirierte Offensivspiel ihrer Mannschaft. Sieht so wirklich die Auswärts-Unterstützung eines potenziellen Drittligisten aus?
Zur Erinnerung: RB kontaktierte damals den FC St. Pauli, 1860 München und Fortuna Düsseldorf, um sie zu übernehmen. Die hatten keine Lust. Sogar bei Sachsen Leipzig probten die Fans schon den Aufstand. Also holte sich Red Bull einfach das Startrecht beim Provinzverein SSV Markranstädt, 13 Kilometer von Leipzig entfernt. Dort gab es auch keine Fangruppen.
Wie will ein Verein, der aus einer Besucherzahl von 600 eine Euphorie herauszulesen versucht und auswärts mit 15 Fans aufschlägt, sich in Berlin, mit seinen zwei traditionsträchtigen Vereinen im Profifußball, behaupten?
Die Antwort kommt dem Albtraum deutscher Fußballtraditionalisten gleich: Familien- und Eventpublikum könnte das Klientel sein, mit dem Viktoria in Berlin eine Nische besetzen könnte. Schließlich grenzen sich Hertha und Union durch ihre spezielle, regionale Folklore stark vom in der Hauptstadt lebenden potenziellen Publikum aus Zugezogenen und Internationalen ab. Diesen Fußballaffinen könnte Viktoria eine Heimat geben.
Man sollte dabei nicht vergessen: RB Leipzig hatte bei seiner Gründung 2009 mit Lok und Chemie Leipzig ebenfalls zwei traditionsreiche lokale Konkurrenten und richtete darüber hinaus seine Heimspiele in der sächsischen Kleinstadt Markranstädt aus. Keine zehn Jahre später strömen regelmäßig über 40.000 Besucher ins Leipziger WM-Stadion, um die "Roten Bullen" spielen zu sehen.
"Wir sind kein Verein, der das Rad neu erfinden möchte", sagt Teichmann im Anschluss an die Regionalligapartie gegen Wacker Nordhausen. Er macht sich noch überhaupt keine Gedanken über die kolportierten 90 Millionen Euro, die die ASU über einen Zeitraum von 10 Jahren in Viktoria investieren möchte. Er referiert lieber von der Durchlässigkeit des Viktoria-Nachwuchs – dem Prunkstück des Vereins:
Auch für einen auf Profitmaximierung und Internationalisierung schielenden Investor wie die ASU dürfte eine solche herausragende Jugendarbeit äußerst attraktiv sein – besonders, wenn er aus China kommt. Der chinesische Fußball will schon seit einiger Zeit am deutschen Nachwuchssystem partizipieren und auf lange Zeit von ihm profitieren. Das zeigt nicht zuletzt etwa die Schalker Fußballschule in Fernost und die (missglückte) Kooperation der chinesischen U20-Nationalmannschaft mit dem DFB.
Gegen Wacker Nordhausen laufen gleich acht Spieler aus dem eigenen Nachwuchs auf und trotzen dem Aufstiegskandidaten aus Thüringen einen Punkt ab. Nicht unwahrscheinlich, dass nach einer geglückten Übernahme durch die ASU auch chinesische Nachwuchskräfte über Viktoria Berlin den Sprung in den Profifußball suchen werden wollen.
Fakt ist: Die Plateno Group des potenziellen Investors Alex Zheng will sich im deutschen Markt platzieren. In Schönefeld eröffnet eines ihrer Hotels, weitere sollen folgen. Ähnlich war der Milliardär aus Hongkong auch bei seiner Akquise in Nizza und Phoenix vorgegangen: Erst wurden Hotels gebaut, dann der örtliche Fußballclub finanziell unterstützt. Zheng erhofft sich also offensichtlich lukrative Synergieeffekte. Dass der zufriedene Fußball-Anhänger nur noch in Plateno-Bettenburgen seinen Urlaub verbringt und Freunden eben diese Hotels für Besuche empfiehlt. ("11 Freunde")
Überdies könnte sich auch sportlich ein attraktiver Austausch durch den Einstieg der ASU bei Viktoria einstellen: Die Himmelblauen könnten zu einer Art "Farm Team" für den OGC Nizza werden, der den aussichtsreichsten Talenten des französischen Erstligisten Spielpraxis und Wettkampfhärte mitgibt. So könnten auf lange Sicht Transferverhältnisse wie zwischen RB Salzburg und RB Leipzig auch zwischen Berlin-Lichterfelde und Cote d'Azur entstehen.
Auch wenn es nicht viele sind: Es gibt Personen, die die Identität Viktorias durch externe Geldgeber gefährdet sehen. Teichmann bringt Verständnis für diese Befürchtungen auf, versucht aber mit etwas weniger Fatalismus an die Sache heranzugehen:
"Darüber mache ich mir momentan absolut keine Gedanken. Aktuell stehen acht Spieler im Kader, die aus dem Viktoria-Nachwuchs kommen. Deswegen sehe ich die Mischung aus eigenen Talenten und erfahrenen externen Spielern auch bei einem möglichen Einstieg eines Investors als Weg, um unsere Ziele zu erreichen."
Wird diese Mischung möglichen Investoren auch konkret als DNA
Viktorias präsentiert?
Das ist definitiv die Geschichte, die wir auch
mit möglichen Partnern weiterschreiben wollen. Der Verein besteht ja nicht nur
aus der Ersten Mannschaft. Die Erste Mannschaft kann aus meiner Sicht auch nur
erfolgreich sein, wenn sie die Substanz des Vereins mitnimmt. Wenn aus der U19
kein Junge den Sprung in die Erste Mannschaft schafft, wie soll dann die U19
Erfolg haben? Diese Jungs sind unglaublich dankbar, wenn sie für die Erste
Mannschaft auflaufen und sind dementsprechend auch gewillt, ihre
Leistungsfähigkeit hochzuschrauben, sollte Viktoria irgendwann der nächste
Schritt machen.
Dass sie bei der Viktoria an ihre "Substanz", wie es Teichmann ausdrückt, denken, zeigt auch, dass bei besagter Mitgliedsversammlung festgelegt wurde, dass die Jugendmannschaften der U16 bis U19 in die Profikapitalgesellschaft überführt werden können, um so ein himmelblaues Nachwuchsleistungszentrum zu ermöglichen.
Ausgerechnet Trainer Jörg Goslar, der erst seit wenigen Wochen im Verein ist, behält bei all dem Chaos und dem Schwebezustand, in dem sich der Verein befindet, den klarsten Kopf. Er will die Visionen zum jetzigen Zeitpunkt von der sportlichen Realität getrennt betrachtet wissen:
"Was genau hinter den Kulissen passiert, hat mich nichts anzugehen. Ich habe genug damit zu tun, 26 Spieler, die sich und mich kaum kennen, so zu entwickeln, dass ihre Ziele mit denen der Viktoria übereinstimmen. Denn so viel ist klar: Das Ziel von uns allen sollte sein, Viktoria in den bezahlten Fußball zu bringen."
Und der Viktoria-Coach hat Recht: Er hat alle Hände damit zu tun, diese Mannschaft im hier und jetzt zu entwickeln – das zeigen nicht zuletzt die wenig inspirierenden Leistungen gegen Nordhausen und Hertha II. Mit diesem Fußball wird die Viktoria noch lange nur vom Profifußball träumen müssen. Aber wer weiß: Mit 90 Millionen Euro kann man sich so einige Träume erfüllen – auch im Fußball. Da muss man nur 150 Kilometer weiter südlich gucken, nach Leipzig.