Es dauerte nur etwa 30 Jahre, bis HipHop vom versteckten Geheimtipp bis zur alles überschattenden Jugendkultur in Deutschland wurde. Deutschrap hat sich immer wieder neu erfunden und ist mittlerweile so breit aufgestellt, dass ihm nicht mal die größten Pessimisten einen Herzstillstand wie noch Ende der Nuller-Jahre prophezeien.
Was aber Deutschrap fehlt, ist ein Nachschlagewerk, das diese Entwicklung fasst. Das ist nun im Ullstein-Verlag erschienen. "Könnt ihr uns hören" heißt es und ist eine Oral History des deutschen Raps. Das bedeutet: Rund 100 Personen aus dem deutschen Rap-Kosmos, also Rapperinnen und Rapper, Manager, Label-Menschen und Rap-Presse, erzählten ihre und damit Deutschraps Geschichte von Anfang an.
Diese wahnsinnige Idee hatten zwei, die perfekt für den Job waren. Davide Bortot, ehemals Chefredaktuer des HipHop-Magazins "Juice" und Jan Wehn, Mitgründer des Rap-Portals AllGood, sind ausgewiesene Kenner der Szene und haben es geschafft, die Essenz von Deutschrap zu kondensieren.
watson traf Autor Jan Wehn vor ihrer Lesung in Berlin.
watson: Für wen habt ihr das Buch geschrieben? Für Rap-Nerds oder Neulinge, die sich mit dem Phänomen Rap auseinandersetzen?
Jan Wehn: Für alle. Das war uns auch ein echtes Anliegen. Wir wollten für Rap-Heads ein paar Schmankerl mitliefern, die sie nicht auf dem Schirm hatten und eher neue Hörer, die vielleicht mit einem Ufo361 zur Rapmusik gefunden haben, können sich drauf schaffen, was zum Beispiel im Berliner Rap vor 20 Jahren ging und lange vor ihrer Zeit passiert ist.
Vor allem sollte das Buch aber zeigen, dass es diese klare Verbindung zwischen dem gibt, was in den späten 80ern passiert ist und dem, was gerade in den Playlisten stattfindet.
Wie schwierig war es, Interviews von 100 Rapper abseits der Promophase zu bekommen?
Meist sind wir übers Management gegangen, und wenn die Leute keines mehr hatten, dann haben wir es über Kollegen versucht und ihnen vom Projekt erzählt. Die meisten waren sofort Feuer und Flamme. Wir sind nach und nach zu den Leuten hingefahren, weil wir das wahnsinnige Ziel hatten, jeden einzeln zu treffen. Das hat in 90 Prozent der Fälle auch geklappt.
Welches der Interviews war am eindrücklichsten?
Das mit Cora E. – der Titel des Buches bezieht sich ja auf den Titel ihres Songs mit Marius No. 1. "Könnt ihr mich hör’n" und das Buch beginnt dann auch mit ihrer Erzählung, wie sie über ihre Faszination für Marius Müller-Westernhagen zuerst Graffiti und dann HipHop entdeckte.
Das Interview mit ihr war eines der ersten und dazu noch super intensiv. Da habe ich zum ersten Mal gemerkt, was wir da wirklich machen.
Was genau meinst du?
Wir hatten den Plan, dieses Buch über Rap und dessen Geschichte zusammenzustellen. Aber in den Gesprächen wurde mir immer wieder klar, dass da ja ganze Biografien hinterstecken. Viele sind als Teenager in diese Szene gekommen und haben mit anderen versucht, HipHop groß zu machen.
Daraus sind Freundschaften und aber vielleicht auch Feindschaften entstanden – und dann komme ich auf einmal, will mit den Leuten in drei Stunden ihr Leben auf links drehen und über Dinge sprechen, die teilweise Jahrzehnte in der Vergangenheit liegen.
Hat das etwas mit den Rappern gemacht?
Klar. Ich bin zum nächsten Interview weitergezogen, doch bei den Leuten hat es natürlich auch nachgewirkt und viele haben untereinander nochmal den Kontakt gesucht. MC Rene hat mir zum Beispiel erzählt, dass DJ Tomekk ihn nach Erscheinen des Buchs kontaktierte, weil beide im Buch lustige Anekdoten über den anderen erzählt haben und diese gegenseitige Wertschätzung miteinander teilen wollten.
Gab es bei einigen von den früheren Helden auch eine Verklärung von einem "damals"?
Diese Vorurteile und Meinungen, wie HipHop zu sein hat, bestehen bei manchen immer noch, klar. Da wurde dann nach Erscheinen noch mal in Instagram-Kommentarspalten diskutiert, warum die Fantastischen Vier denn jetzt in diesem Buch dabei sein dürfen. (lacht)
Dafür gibt es andererseits aber auch Leute wie MC Rene, Martin Stieber oder Max Herre, die eine aufrichtige Offenheit für das demonstrieren, was heute im Rap passiert. In der Retrospektive wird immer verklärt, dass deutscher Rap immer aus verfeindeten Lagern bestand. Das mag zu einem gewissen Grad stimmen, doch es hing alles immer mehr zusammen, als man glaubt. Und manche dieser Verbindungslinien haben wir mit dem Buch geschlossen.
HipHop hat sich früher sehr über Lokalität definiert. Gibt es die heute noch?
Eigentlich nicht, weil die Leute mit weniger Aufwand aus ihrem Kinderzimmer heraus miteinander connecten konnten. Das beste Beispiel ist für mich die Mongo Clikke (Absolute Beginner, Eins Zwo, 5 Sterne Deluxe, Samy Deluxe, Ferris MC; Anm. d. Red.) auf der einen Seite und der Swag Mob (Money Boy, Hustensaft Jüngling, LGoony) auf der anderen. Beide sind im Prinzip genau das gleiche: Leute, die eine ähnliche Sichtweise haben, finden zusammen und es entsteht was sehr Kreatives. Der Unterschied war, dass die Mongo Clikke das in einem Wohnkomplex in Hamburg-Eimsbüttel gemacht hat und der Swag Mob eben im Internet auf Facebook.
Ist es jetzt gut, dass sich der Rap so globalisiert hat?
Es ist natürlich etwas schade, weil es auch geil war, dass die Sachen aus den unterschiedlichen Städten auch immer ganz unterschiedlich geklungen haben. Andererseits ist es schön, dass Talent viel einfacher an ein großes Publikum kommen kann und man dafür nicht nach Berlin ziehen muss. Wenn RIN aus Bietigheim-Bissingen sich auf die Bühne der Einslive Krone stellt und sagt, dass dieser Preis für all die Leute in der Kleinstadt ist, dann ist das für jemanden wie mich, der als Jugendlicher auch das Gefühl hatte, dass die Welt sich ganz wo anders als in meiner kleinen Heimatstadt abspielt, natürlich sehr inspirierend.
RIN selber gibt etwa einer Untergrund-Legende wie Lakmann viel Respekt. Gibt es noch diese Kultur, sich von dem abzugrenzen, was es noch vor fünf Jahren gab? Ist man eher auf Kuschelkurs zu den Ahnen?
Früher gab es tatsächlich mehr Feindschaften, vielleicht auch aus dem Grund, dass Rap nicht der Respekt entgegengebracht wurde, wie es jetzt der Fall ist. Um seinen eigenen Platz zu bekommen, musste man sich gegen die anderen durchsetzen. Mittlerweile ist Rap wahrscheinlich die größte Jugend-Subkultur der Welt. Das hat bei allen Protagonisten für ein entspannteres Grundgefühl gesorgt.
Ist mit dieser Entspannung auch der Hunger flöten gegangen?
Bei manchen sicher, klar. Aber dann höre ich einen Döll oder OG Keemo an und merke: die haben immer noch krassen Hunger – und den haben ein Capital Bra oder ein Mero auf ihre Art und Weise ja genauso.
HipHop hat sich in 30 Jahren stark verändert. Was ist denn immer ein Indikator für Rap geblieben? Ist Shirin David Rap, weil sie rappt?
Voll. Die Selbstverständlichkeit, mit der sie rappt, wie sie im Song "Gib ihm" mit ihrem Charakter spielt – das ist für mich 100 Prozent Rap. Sie macht nichts anderes als ein Samy Deluxe. Kann sein, dass manch einer nichts mit Shirin David anfangen kann. Ich schon. Dafür gefallen mir dann ein ApoRed oder Lil Lano weniger, was wiederum für manch anderen der Shit ist. Genau das ist aber ja das Schöne am Rap: Für jeden ist mittlerweile was dabei.