Die Scheinheiligkeit begegnet Thomas auf der Haupttribüne. Sie trägt schicke Klamotten und hockt auf den gehobenen Plätzen der Arena auf Schalke. Sie zeigt sich kurz nach Anpfiff und hat so gar nichts mehr zu tun mit Wörtern wie "schick" und "gehoben".
Die folgenden 90 Minuten Nationalmannschaft schocken Thomas so sehr, dass er seine Erfahrung auf Twitter postet – und damit eine Debatte lostritt, an der sich in den Tagen darauf Dutzende beteiligen.
Die Geschichte des 41-jährigen Arztes bestätigt einmal mehr eine gefühlte Wahrheit, die man von der Bundesliga bis zur Kreisklasse so oft erlebt. Sie verlief so:
Nach Feierabend macht sich Thomas mit Freunden nach Gelsenkirchen auf. Im Stadion angekommen, bemerkt er schon zahllose "Hobby-Bundestrainer", wie er sie nennt.
An sich sind die beim Fußball nichts Besonderes. "Es gibt immer diese Fans, die dauernd Spieler und Fehlpässe kommentieren", sagt Thomas. Typisches Kneipengehabe sei das. Aber nach Anpfiff verwandelt sich die überhebliche Kritik der Zuschauer um Thomas herum schnell zu etwas anderem. Immer öfter schießen die Fans auf den Sitzplätzen neben ihm jetzt gegen bestimmte Spieler.
"Wenn Antonio Rüdiger am Ball war, kamen Kommentare wie 'Der kann nichts!', 'Was macht der hier' oder 'Der ist so schlecht", erzählt Thomas.
Eigentlich führt Deutschland zu diesem Zeitpunkt 2:0 und Thomas wundert sich über die Aggressivität der Kommentare. Vor allem das "Warum ist der überhaupt dabei" irritiert ihn.
Und dann legen die Zuschauer plötzlich so richtig los. Immer öfter, lauter und diskriminierender werden die Bemerkungen.
Andere rufen: "'Abschieben, den muss man abschieben', sobald Kehrer, Rüdiger, Sané oder Gnabry einen schlechten Pass spielen. "Immer gackerten sie alle zusammen", schildert Thomas die Situation im Rückblick. Immer sei es um die gleichen Spieler gegangen, "diejenigen ohne blonde Haare und ohne blaue Augen."
Es ist kein Geheimnis, dass der deutsche Fußball ein Problem mit rechsextremen Fans hat. Vor allem aber die Nationalmannschaft hat in den vergangenen Jahren viel am eigenen Image des Multikulturalismus gearbeitet. Ein Sport, in dessen Stadien sich die ganze Familie wohlfühlen kann. Party-Patriotismus statt Chauvinismus. Der Fall Özil hat dieses Bild jedoch bröckeln lassen.
Thomas wundert nicht, dass es diese Rechtsradikalen und Alltagsrassisten im Fußball gibt.
Auch unternommen habe niemand etwas. Aus scheinbar gebildeten Fußballfans entwickelt sich ein rassistischer Stammtisch.
Thomas hat normalerweise keine Berührungsängste und sucht mit den Augen nach Ansprechpartnern unter den Typen, die "Uga Uga" und "Abschieben" rufen. Aber es sind so viele, dass er alleine nichts mehr gegen sie ausrichten kann.
"Ich hab rübergeschaut, mit dem Kopf geschüttelt und durch meine Blick klar gemacht, dass ich das nicht gut finde", schildert Thomas. Und tatsächlich, wenigsten einige der Zuschauer halten fortan den Mund. Er erinnert sich: "Sie waren dann ruhig, weil sie peinlich berührt waren."
Thomas glaubt, dass sich im Stadion fortsetzt, was in der Gesellschaft seit langem ein Problem ist. "Heute sagen die Leute Dinge unter Klarnamen, die früher undenkbar gewesen wären", sagt er. Im Schutz der Masse an Fußballfans können sich dann aber auch gebilderte Schichten abreagieren.
Der Arzt will auch nach den 90 Minuten in Gelsenkirchen weiterhin ins Stadion gehen und hofft unter anderem, dass der DFB reagiert: "Der Fußballbund muss diese Probleme ernstnehmen. Es gibt Rassismus in der Gesellschaft und vielleicht noch heftiger im Stadion und auch im Verband."
(bn)
*Thomas heißt eigentlich anders, doch er möchte anonym bleiben.