Der Anfang vom Ende begann wie so oft harmlos, an einem Sonntag im Juli 2015. Damals war ich jung und naiv, oder wenigstens: jünger und naiver.
Ich saß mit Clemens im Hof hinterm Haus, da saßen wir damals ständig, vor allem Sonntagmorgens, das Wochenende in den Knochen. Mitbewohnerliebe halt. Irgendwann starrte Clemens nur noch aufs Handy und lachte ständig. "Was'n los?", fragte ich.
Clemens erklärte mir die Dynamik des Bösen. Das ist Jodel:
"Ja, ok. Ich lad's mir." Damals, liebe Kinder, als ich noch jung war, da war Jodel übrigens noch nicht so hart wie heute. (Und ja, die Ted-Mosby-Stimme ist gewollt.)
"Eigentlich voll unnötig", dachte ich – und jodelte trotzdem am nächsten Tag in der Straßenbahn direkt drauf los.
Der Typ stieg aus, schaute auf sein Handy und ich bekam diesen leichten Anflug von Panik, wenn man ahnt, dass man etwas getan hat, was vielleicht nicht ganz ok ist. "Fuck, hat der das jetzt gelesen?"
Aber die ersten Upvotes trudelten ein. Ich fand mich witzig, hatte nichts Besseres zu tun und es jodelten ohnehin alle meine Freunde, was sollte also falsch daran sein.
Viel, aber dazu später mehr.
Ein Wochenende später saß ich in meiner WG auf dem Klo und ärgerte mich über die Person, die offensichtlich kurz vor mir länger hier gesessen hatte.
Und dann: WUMMS, mehr als 200 Upvotes! Ich fühlte mich gut, wusste ja keiner, dass ich das war, tat ja keinem weh. Ein Triumph im Kleinen war das. Ein ganz privater Sieg – gefeiert von einer großen Masse. Fühlte sich gut an. Echt gut.
Ganz geil.
Die ersten Jodel-Whatsapp-Screenshots gingen raus. Zeit, dass meine Freunde mitbekamen: Ey, der ist lustig – Jodel ist der Beweis. 119 Upvotes können nicht lügen.
Ich kriegte Jodel-Hunger, leichte Cravings: Ich könnt doch eigentlich mal wieder. Ein klein bisschen kann doch nicht schaden." Oder? ODER?
Und dann kam er, die Post, der mir Upvotes und Unglück gleichermaßen brachte. Schlich sich an, ganz harmlos, einfach mal wieder ein typisches "Süße Omi sagt dies und das"-Erlebnis, das ich dann gnadenlos für meinen Karma-Fame ausschlachtete.
Bäääm, das war krass! Ich ging viral: Mehr als 600 Upvotes, zig Kommentare – das Karma wuchs, und wuchs...
Geblendet vom Ruhm fragte ich die nette Dame, ob ich sie für Jodel noch fotografieren dürfte. (Yap, ernsthaft.)
Das Handy brummte bei jedem neuen Kommentar. Aktualisieren, aktualisieren, aktualisieren: Mein Karma wurde sechsstellig.
Ich dachte mir: "Du hast es geschafft, Junge, die Leute reden wieder von dir. Nachdem sie dachten, du wärst weg auf und davon und krepiert."
Plötzlich spürte ich, was auf Jodel möglich ist: Anerkennung am laufenden Band, ohne Angst haben zu müssen, den Bullshit irgendwann mal rechtfertigen zu müssen. Aber Jodel, das war meine Klowand: Hier konnte ich alles hinkritzeln, was ich wollte.
Irrational as fuck jodelte ich mich also ins Karma-Paradies.
Morgens, mittags, abends: App auf, Top-Jodel checken – mein Karma wuchs schneller als mein Kontostand.
Jede lustige Anekdote wurde verjodelt, um noch effizienter zu jodeln, entwickelte ich mein "Karma-Master-System".
Jodel wurde mir immer wichtiger: Als meine damalige Freundin mich nach einem Streit fragte, ob ich unsere bizarren Auseinandersetzungen zur Abwechslung mal nicht bei Jodel posten könnte, fand ich das nicht alarmierend.
Ich versprach's ihr. Und machte dann heimlich weiter, als sie die Stadt verließ.
Wir trennten uns, mir war langweilig – als ich sie aus einer Laune heraus fragte, ob wir, frisch getrennt, nicht eine Woche zusammen nach Mallorca fliegen wollten, machte ich was? Genau, ich jodelte das natürlich.
Hatte ich ein Problem? Clemens, mein erster Karma-Dealer, sagte irgendwann: "Dir erzähl ich nix mehr. Das landet ja dann eh bei Jodel."
500 Upvotes reichten mir irgendwann nicht mehr. Was war das eigentlich für ein Bullshit, der da immer auf der Jodel-Facebook-Seite gefeiert wurde, fragte ich mich.
Ich wollte den Fame und verdiente ihn auch.
Ich stürzte ab. In die Tiefen des Niveaus, volle Kanne in den Paulanergarten. Ich dachte mir Geschichten aus, die so nie passiert sind. Alles fürs Karma eben.
Jeder Jodel unter 300 Upvotes tat fast schon weh. Voll-Loser unter 100 Votes löschte ich verschämt.
Paulaner, Repost – meine ersten Jodel wurden gemeldet. Meine Freunde machten sich Sorgen: "Du machst ja gar nix mehr bei Insta und Facebook? Ich glaub, du hast ein Jodel-Problem."
Sogar meine Mutter schaltete sich ein: "Das ist doch nix. Mit diesen merkwürdigen Leuten, die du gar nicht kennst. Die haben doch alle keinen Job bei diesem Jodel."
Irgendwie hatten sie Recht.
Es fühlte sich nicht mehr gut an. Das Karma-Jagen war ohnehin öde geworden. Geschichten wiederholten sich. Nicht mal ein Topjodel war mir noch etwas wert.
Ich verbannte Jodel auf die letzte Seite meines Handys, direkt neben den Taschenrechner.
Endlich wieder normale Gespräche: Wenn ich von Bahnfahrern redete, sagte ich nicht mehr Manni. Gadsen und Bellgadsen waren wieder normale Tiere für mich. Und Mörres sagte ich zur großen Freude meiner Bekannten auch nicht mehr.
Übrigens: Wer weniger jodelt, kann auch mehr DLRH.
Donnerstagnachmittag in der watson-Redaktion. Meine Chefin und ich labern – und ich mache einen großen Fehler: "Weißt du, ich war ja früher mal hart Jodel-süchtig."
Für diese Beichte mache ich die App wieder auf, klicke mich durch meine alten Jodel. Schau an, Channel gibt's jetzt auch. Oh Gott, den @Beichtstuhl hätte ich nicht öffnen sollen! 🤯
Ich jodel ein Frühlingsfoto, für die Recherche. Das bringt ein paar Upvotes.
Das alte Kribbeln, das kenn' ich doch noch.
Es geht wieder los.
HILFE!