Bill und Tom Kaulitz gibt es noch. Und es scheint ihnen blendend zu gehen, wenn man zumindest mit halbem Ohr dem Klatsch der letzten Monate lauschte. Und auch sonst scheinen sie die Transformation von den – rund um die Uhr mit Wahnsinn konfrontierten – Teenie-Sexsymbolen ins Erwachsenenleben gut überstanden zu haben.
Vor zehn Jahren flüchteten die Zwillinge nach Los Angeles, nachdem Fans in ihr Privat-Grundstück eingebrochen waren. Nach vier Jahren des Leben-Lernens kamen sie mit zwei Alben zurück. Das klang dann nicht mehr nach Emo-Pop-Punk, sondern nach kalifornischer Lounge-Musik.
Und Tokio Hotel haben den unfassbaren Luxus, dass ihre Fans sie unterstützen, egal, was sie machen. Im Frühling gehen sie in Europa auf Tour und spielen 34 Konzerte zwischen Madrid und Moskau. Später im Jahr ist der Rest der Welt dran.
Ich sitze mit Bill und Tom in einer Suite im Grand Hyatt. Heute werden Interviews abgehandelt. Tom schüttet uns Kaffee ein. Bill zupft seinen orangenen Oversized-Sweater zurecht. Anstrengen muss man sich nicht, damit die beiden sprechen.
watson: Ihr habt gesagt, dass ihr euch anfangs in L.A. nicht als Sänger ausgegeben habt, sondern euch andere Jobs überlegt habt, um nicht aufzufallen. Macht ihr das immer noch so?
Bill: Meistens sage ich mittlerweile, dass ich Songwriter bin.
Tom: Und dann fragen sie: "Und für wen?"
Bill: Dann sage ich "für alles Mögliche" und mache Kopfhörer rein, wenn’s brenzlig wird. Sorry.
Stimmt es, dass man in L.A. mit Referenzen ankommen muss, mit wem man schon was gemacht hat?
Tom: Die erste Frage ist: "Wie heißt du?" Und die zweite ist "What do you do for a living?" ('Was arbeitest du?'). Wenn du sagen würdest, dass du LKW fährst, dann drehen sie sich gleich um.
Bill: Das sollte ich sagen: Ich bin LKW-Fahrer.
Und kommt dann auch "What do you make?" – also: "Was verdienst du"?
Bill: Ja, die Amerikaner sind da total schmerzbefreit und fragen dich lauter intime Sachen. Sie antworten aber oft sehr oberflächlich. Vielleicht antworten sie aber nur so oberflächlich, weil sie so intime Fragen gestellt bekommen.
Tom: Jetzt wird’s aber tiefgründig.
Ihr seid jetzt seit 10 Jahren in Los Angeles. Kann man sich in so einer Stadt wie L.A. wirklich heimisch fühlen?
Bill: Wir haben ja unser ganzes Erwachsenenleben dort gelebt. Von 15 bis 20 haben wir ja gefühlt isoliert von der Welt gelebt. In L.A. haben wir dann erst leben gelernt, von daher fühlt sich das dort schon wie ein Zuhause an.
Tom: Ein für unsere Verhältnisse normales Leben kannst du da schon führen. Du hast dort eine Art Disneyland für Menschen, die sich unglaublich viel von L.A. erhoffen. Aber wir leben dort zurückgeschieden und haben einen totalen Alltag.
Bill: Tom ist ja voll der Homebuddy, den muss ich immer überreden, rauszukommen. Der hängt zu Hause ab, geht ins Studio, kriegt zu Hause noch etwas zu essen und geht dann schlafen.
Wenn ihr von außen auf Deutschland schaut und auf den Hate, den ihr immer noch abbekommt – regt ihr euch manchmal über die Miesepetrigkeit der Deutschen auf?
Bill: Manchmal schon. Bei manchen Sachen, die ich lese, kann ich auch nur den Kopf schütteln.
Tom: Ich habe gerade eine Rezension zu unserem neuen Song gelesen. Die war so unter der Gürtellinie, da habe ich gedacht, da muss irgendwas passiert sein, dass er uns total hasst. Habe ich vielleicht von dem mal die Tochter gevögelt?
Bill: Da ging es auch nicht mehr um den Song, das war ein 3-seitiger Hassartikel. Ich glaube nicht mal, dass es eine persönliche Geschichte war. Der hat uns wahrscheinlich nie getroffen. Der ist so ein typischer miesepetriger Deutscher.
Aber muss man euren neuen Song gut finden?
Bill: Man kann gut seine Meinung über seinen Song schreiben und sie begründen. Aber man muss dabei nicht persönlich werden. Er hat in dem Artikel dann dreimal geschrieben: "Und die beiden anderen, deren Namen man nicht kennt." Ich dachte mir nur, ich hab's schon beim ersten Mal verstanden.
Tom: Dieser Spruch auch immer: "Die anderen beiden, deren Namen man nicht kennt." Das gibt es doch in jeder Band: Weißt du auf Anhieb, wie alle von Rammstein heißen? Oder der Schlagzeuger von AC/DC?
Ihr habt ja auch mittlerweile wieder regelmäßigen Kontakt zu euren Fans. Wie habt ihr dieses Verhältnis wieder aufgebaut?
Bill: Das liegt an der langen Pause. Manchmal sehe ich alte Videos von mir, wo ich mir denke: Wow, wie warst du denn drauf? Ich war wie ein Roboter und habe niemanden an mich rangelassen. Es hat mich auch nicht berührt, Leute zu treffen und Hände zu schütteln. Nach so einer langen Pause kannst du auch wieder die Leute angucken und ihre Geschichten wahrnehmen.
Tom: Unsere Fans sind ja auch älter geworden. Die begegnen uns mittlerweile etwas gelassener.
Bill: Wobei, manchmal, wenn sie uns unverhofft treffen, dann kommt etwas raus, was Tom und ich den Gedanken-Furz nennen. Sie sehen uns zum Beispiel im Flugzeug und furzen ganz schnell aus dem Mund: "EY, DA IST JA BILL VON TOKIO HOTEL". Wenn du sie dann anguckst, dann ist es ihnen peinlich.
Was sind denn gerade eure musikalischen Ziele?
Tom: Klar versuchen wir auch ein neues Publikum zu erreichen. Wir haben eine feste Fanbase, die uns immer unterstützt und uns ermöglicht, dass wir uns ausprobieren. Aber unsere Musik hat auch nichts mehr damit zu tun, was wir vor 15 Jahren erreicht haben. Wir produzieren und schreiben alles alleine, zum Beispiel. Und heute hast du die Chance, über Streaming in Playlists und so an die Leute ranzukommen.
Ihr wollt den Leuten also eure Songs unterjubeln?
Bill: Genau so. Wenn unser Song irgendwo in einer Werbung unterlegt ist, schreiben wir ganz oft unseren Bandnamen nicht hin. Wenn da Tokio Hotel stehen würde, sind die Leute in Deutschland schon immer so voreingenommen, dass sie dem keine Chance geben.
Hattet ihr jemals überlegt, den Namen eurer Band zu ändern?
Tom: Nee, das wäre dann zu viel Schwanz einziehen.
Bill: Wir müssen uns ja auch nicht verstecken. Wir hatten bisher eine megageile Karriere. Die Leute müssen sich mal entspannen und ein bisschen gute Musik hören.
Ihr beendet ja fast schon gegenseitig eure Sätze. Ist das ein Zwillingsding?
Bill: Das Problem bei Tom und mir ist, dass wir uns manchmal als fast gleiche Person sehen. Wir sind gleichzeitig glücklich und traurig. Wenn ich in den Raum komme und er hat schlechte Laune, dann weiß ich schon, warum.
Tom: Es ist dann etwas extrem. Wir ziehen uns dann noch höher, wenn wir gut drauf sind, anders bringen wir uns dann auch gegenseitig runter.
Wenn ihr andere Zwillinge trefft, erkennt ihr das auch bei denen?
Bill: Wir treffen leider nicht so viele andere Zwillinge. Letztens habe ich mit welchen gesprochen und bei denen war die Verbundenheit gar nicht so eng wie bei uns. Da war ich ein bisschen erschrocken.
Tom: Bei uns ist es auch extrem dadurch, dass wir, seit wir Teenager sind, auch den gleichen "Job" machen und nur wenige anderen den nachvollziehen können. Klar müssen wir auch dadurch miteinander abhängen.
Bill: Wir hatten ja damals schon überlegt, was wir später machen wollen, wenn es mit der Musik nicht klappt. Ich hätte vielleicht Modedesign studiert oder wäre ins Musical gegangen. Tom wollte Architekt werden. Vielleicht wären wir in andere Städte gezogen und wir wären uns heute nicht so extrem nah.
Tom: Ich bezweifle, dass wir in verschiedene Städte gezogen wären.
Hättet ihr den Wahnsinn der anfänglichen Tokio-Hotel-Zeit überstanden, wenn ihr alleine gewesen wärt?
Tom: Ich glaube schon, dass das anders ausgegangen wäre.
Bill: Tom hat die Aufmerksamkeit auch immer noch weniger als ich gewollt. Klar wollte er Musik machen, aber er würde am liebsten im Studio sitzen und tüfteln.
Tom: Deswegen habe ich es auch geliebt, Bills Solo-Platte zu produzieren. Das war mein Lieblingsprojekt. Da konnte ich einfach nur Musik machen.
Bill: Und ich liebe den ganzen Rest. Ich habe mich auch immer eher als Performer denn nur als Sänger gesehen. Es macht mir unglaublich Spaß, das Visuelle der Band zu konzipieren und Shootings zu planen. Tom hat schon eine Horrorvorstellung davon, wenn er weiß, dass morgen Fotos geschossen werden.